Eines der vier Leitthemen für meinen Blog heißt „gerechte Gesellschaft“. Darin plädiere ich zum Beispiel für eine echte Rente anstatt Grundsicherung im Alter, eine Einzelmaßnahme, die ich dort auch ausführlich begründe. Ich schreibe auch über unser Steuersystem und fordere niedrigere Belastung für Geringverdiener und deutlich höhere Belastung zum Beispiel für Millionenerben. Auch diese Einzelmaßnahme begründe ich ausführlich, obwohl diese Forderung angesichts der Absurdität unseres Erbschaftsteuersystems eigentlich selbsterklärend sein dürfte.

Einzelne Forderungen von mir erklären sich vielleicht ganz gut von selbst. Dennoch scheint es mir sinnvoll, einmal grundsätzlicher über Gerechtigkeit in Verteilungsfragen zu schreiben, um klar zu stellen, warum ich manche Positionen vertrete.

Die für mich überzeugendste philosophische Begründung für mehr Verteilungsgerechtigkeit stammt von John Rawls. Er spricht sich in seiner 1971 veröffentlichten Theory of Justice und in seinem 2001 erschienenen deutlich kürzeren Werk Justice as Fairness: A Restatement für einen deutlich mehr Chancengerechtigkeit und Umverteilung aus, als wir in Europa gewohnt sind.

Rawls postuliert zwei Grundprinzipien der Gerechtigkeit[1]:

  1. Jede Person hat den gleichen unabdingbaren Anspruch auf ein vollständig zufriedenstellendes System von Grundrechten. Für alle Menschen müssen dieselben Grundrechte gelten.[2]
  2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheit darf es nur unter zwei Bedingungen geben:
    • für alle Ämter und Positionen muss faire Chancengleichheit gewährleistet sein
    • die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft müssen von der Ungleichheit profitieren (Differenzprinzip)

Faire Chancengleichheit ist ein von Rawls geprägter Begriff, den er explizit mit formaler Chancengleichheit kontrastiert. Chancengleichheit ist nur dann fair, wenn Ämter und Positionen nicht nur auf dem Papier allen Menschen gleich offen stehen, sondern wenn weniger privilegierte Menschen auch eine echte und faire Chance haben, diese Ämter zu erreichen. In Deutschland herrscht nach diesem Konzept keine faire Chancengleichheit, sonst gäbe es mehr Frauen in Führungspositionen oder mehr Arbeiterkinder, die Abitur machen.

Faire Chancengleichheit würde also schon für sehr viel mehr Gerechtigkeit sorgen als wir aus unserer Gesellschaft gewohnt sind. Faire Chancengleichheit gilt aber nur für Menschen, die genetisch dieselbe Intelligenz und denselben Ehrgeiz mitbringen. Faire Chancengleichheit heißt nicht, dass Führungsposition verlost werden sollten. Im Gegenteil, für Rawls ist es selbstredend, dass diese Positionen von den fähigsten und motiviertesten Personen eingenommen werden sollen.

Damit stehen also die attraktivsten Tätigkeiten und Ämter weiterhin nicht wirklich allen Menschen gleich offen. Sie unterliegen sozusagen der Willkür der genetischen Lotterie. Und genauso wie wir die ausschließlich auf Geburtsrechten beruhenden Privilegien in einer feudalen Gesellschaft als reine Willkür ablehnen, sind auch diese Fügungen des Schicksals nicht gerecht. Warum sollen Menschen, die mit geringer Begabung oder geringem Ehrgeiz zur Welt kommen, schlechter behandelt werden als solche, die mehr Glück gehabt haben?

Rawls geht daher mit seinem Differenzprinzip noch weiter. Er verwirft das klassische Leistungsprinzip, weil er sagt, dass Leistung zu oft genetisch bedingt ist. Wenn wir viel Geld verdienen, weil wir zufällig überdurchschnittlich intelligent sind, über eine besonders starke Konstitution verfügen, Alpha-Tier-Gene unser Selbstbewusstsein überhöhen, etc., ist dieses viele Geld nicht wirklich unser Verdienst, sondern basiert zu einem großen Teil auf dem Zufall unserer Gene. Hinzu kommt noch das große Quantum Glück, dass man braucht, um innerhalb eines Unternehmens ganz nach oben aufzusteigen oder um in einer Branche zu landen, die zufällig extrem gut bezahlt. Es beruht schließlich auf keiner Logik, dass der Derivatehändler einer Investmentbank so viel mehr Geld verdient als der Ingenieur in einem innovativen Unternehmen. Jeder von uns wird dies aus persönlicher Erfahrung bestätigen können. Ich habe viele Freunde, die intelligenter sind als ich, die eine hervorragendes Studium absolviert haben und die mindestens genauso hart gearbeitet haben wie ich, die aber (in Einkommen gemessen) nicht so viel Glück hatten wie ich.

Natürlich gibt es immer wieder Menschen, die schlichtweg faul sind und natürlich gibt solche, die sich mehr anstrengen als andere. Und unsere Erfahrung zeigt uns auch, dass man insbesondere junge Menschen motivieren sollte, ihre Talente zur Entfaltung zu bringen. Dazu gehört auch die Möglichkeit mehr Geld zu verdienen, wenn man sich wirklich anstrengt und gut ausbildet. Rawls spricht sich klar dafür aus, dass die Menschen ihre Talente auch voll zur Entfaltung bringen. Und diejenigen mit den größten Talenten sollen auch am weitesten nach oben kommen. Unserer Gesellschaft geht es besser, wenn unsere Unternehmen oder unser Staat von den Besten und Motiviertesten geführt werden.

Damit die Menschen wirklich hart arbeiten und ihre Talente voll zur Entfaltung bringen, sollten wir also tolerieren, dass ein Bundesligaspieler mehr verdient als jemand in der Kreisklasse und ein Vorstand mehr als ein Buchhalter. Aber die Einkommensunterschiede zwischen den Positionen müssen bei weitem nicht so groß sein wie heute. Nur so groß, dass eine begabte Person sich auch anstrengt, die in ihr liegenden Talente voll zur Entfaltung zu bringen. Indem sie das macht, schafft sie nämlich Wohlstand und dient damit der Gesellschaft.

Daher das Differenzprinzip von Rawls: Ungleichheit darf nur dann toleriert werden, wenn sie der Gesellschaft und vor allem den Schwächsten der Gesellschaft dient. Da die hohen Markteinkommen von zum Beispiel Fußballstars oder Topmanagern nur zu einem Teil auf deren persönlichem Verdienst beruhen, haben sie auch nur einen moralischen Anspruch auf den Teil ihres Einkommens, der notwendig ist, um ihren überdurchschnittlichen Einsatz zu belohnen. Wenn ein Großteil der hohen Einkommen von Glück abhängt, warum soll dieses Glück dann nicht mit der Allgemeinheit geteilt werden? Das bedeutet, dass wir den Steuersatz für sehr hohe Einkommen deutlich anheben sollten. Die Grenze wäre erst dann überschritten, wenn die Wirtschaftsleistung so sehr zurück geht, dass es den Schwächeren in unserer Gesellschaft trotz höherer Umverteilung schlechter geht.

Wie hoch ein Spitzensteuersatz für Spitzeneinkommen sein kann, ohne dass die Wirtschaft darunter gravierend leidet, darüber kann man unter Ökonomen trefflich streiten. Dass dieser aber deutlich höher ist als 45%, steht wohl außer Frage. In der Literatur zu optimalen Steuern sieht man Steuersätze von 70% und mehr.[3] Manche meinen, dass Menschen in Spitzenpositionen bei solch hohen Steuersätzen deutlich weniger arbeiten würden und dass daher der Wohlstand in unserer Gesellschaft sinken würde. Es gibt aber keine empirischen Belege, dass Steuersenkungen wachstumsfördernd wären. Die USA sind nicht langsamer gewachsen, als dort Spitzeneinkommen noch mit über 70% besteuert wurden. Das Wachstum in Deutschland hat sich nicht beschleunigt, als der Spitzensteuersatz von 56 auf 42% gesenkt wurde. Auch die Hochsteuerländer in Skandinavien wachsen nicht langsamer als Niedrigsteuerländer.

So wie führende Ökonomen in der Theorie darlegen, dass sehr viel höhere Spitzensteuersätze möglich sind, ohne das Wachstum zu gefährden, so scheint es mir auch aus praktischer Erfahrung richtig zu sein. Ich habe selber viel verdient in meiner Private Equity Zeit und habe auch viele extrem erfolgreiche Unternehmer kennengelernt. Alle arbeiten 60 Stunden und mehr in der Woche. Bei niemandem kann ich mir vorstellen, dass sie oder er sein Arbeitspensum auch nur um eine Stunde in der Woche reduzieren würde, wenn der Grenzsteuersatz für Spitzeneinkommen von 45% auf zum Beispiel 60% steigen würde. Es erscheint mir auch völlig absurd zu glauben, dass hochbegabte junge Menschen weniger in ihre Ausbildung investieren würden, wenn sie davon ausgehen müssen, dass man in Spitzenpositionen nur noch drei anstatt vier Millionen Euro netto im Jahr verdienen kann.

Rawls Ziel ist es, eine Gesellschaft zu errichten, in der die gesellschaftlichen Regeln und Institutionen verhindern, dass ein winzig kleiner Teil der Gesellschaft so viel Vermögen und Kapital besitzt, dass diese wenigen Menschen die Wirtschaft kontrollieren und indirekt auch die Politik. Er spricht sich daher auch gegen den klassischen Wohlfahrtsstaat aus, selbst wenn dieser den Menschen eine generöse Grundsicherung garantiert. Für Rawls ist in einem solchen Wohlfahrtsstaat das Prinzip der Gegenseitigkeit nicht respektiert. Die vom Schicksal weniger begünstigten sollen nicht Objekt unserer Nächstenliebe oder Barmherzigkeit sein und schon gar nicht unseres Mitleids, sondern Menschen, denen Gegenseitigkeit geschuldet wird.[4]

Rawls spricht sich daher für eine „Eigentümer-Demokratie“[5] aus, eine Gesellschaft, die nicht ex post umverteilt, sprich Menschen, denen es nicht gut geht mit Sozialhilfe unterstützt, sondern ex ante alle Bürger am gesellschaftlichen Vermögen teilhaben lässt. Er macht sich daher für eine progressive Erbschaftsteuer stark, um zu verhindern, dass nur wenige das Produktivvermögen eines Landes kontrollieren und damit indirekt auch die Politik. Die Institutionen und Regeln eines Landes sollen vielmehr dafür sorgen, dass das Eigentum an Vermögen und Kapital weit verbreitet ist.

Warum sind also so viele Menschen gegen deutlich höhere Steuersätze für sehr hohe Einkommen? Und warum sperren sie sich gegen eine Erbschaftsteuer für Millionenerben, die man nutzen könnte, um jedem jungen Erwachsenen ein gut gefülltes Chancenkonto zur Verfügung zu stellen?

Vielleicht liegt das daran, dass dank der kalten Progression der Spitzensteuersatz inzwischen bereits für Menschen in der oberen Mittelschicht fällig ist und man kein Vertrauen darin hat, dass hohe Steuersätze nur für das reichste Prozent der Gesellschaft gelten sollen und Steuersätze von deutlich über 50% nur für das hoch privilegierte 1 Promille der Bevölkerung, sprich für Menschen, die nicht 5 sondern 50 Tausend Euro im Monat verdienen. Vielleicht verstehen viele auch nicht was ein Grenzsteuersatz bedeutet. Ein Spitzensteuersatz von 60% für Einkommen über 500.000 Euro im Jahr heißt, dass nur Einkommen über diesem Betrag mit diesem Satz besteuert werden. Da Einkommen unter dieser Schwelle deutlich niedriger besteuert werden, ist der Durchschnittssteuersatz auch deutlich unter 60%.

Ein anderer Grund mag daran liegen, dass viele Menschen den Staat bereits für außerordentlich gut finanziert halten, schließlich erwirtschaften wir in Deutschland Überschüsse und können Schulden tilgen. Diese Menschen befürchten, dass zusätzliche Steuereinnahmen nur staatliche Verschwendung anregen würden. Dies mag vielleicht in der realen Welt so sein, es ist aber kein Gegenargument in einer theoretischen Betrachtung über Gerechtigkeit. Wenn wir grundsätzlich über Gerechtigkeit nachdenken, sollten wir davon ausgehen, dass der Staat seine Steuereinnahmen vernünftig verwendet und wenn er das heute nicht tut, sollten wir daran arbeiten.

Vermutlich ist der Hauptgrund, warum die radikalen Forderungen von Rawls nicht umgesetzt werden, noch ein anderer. Diejenigen, die viel Geld verdienen, sind meist der festen Überzeugung, dass es ausschließlich oder hauptsächlich ihre eigene Leistung ist, die sie zu Spitzenverdienern macht. Sie wollen sich nicht eingestehen, dass ein großer Teil ihres überdurchschnittlichen Verdienstes vom Glück beeinflusst war. Klar, es schmeichelt das Ego natürlich viel mehr, wenn man sich einredet, man habe es verdient so viel Geld zu haben, weil man so besonders außergewöhnlich viel leiste, als wenn man sich eingestehen muss, dass man richtig viel Glück im Leben gehabt hat.

Wir sollten uns vor daher loslösen von unserer momentanen Lebenssituation. Wir sollten uns fragen, wie wir entscheiden würden, wenn wir keine Ahnung hätten, ob wir intelligent und willensstark sind oder ob wir in der genetischen Lotterie Pech hatten. Das ist genau der Schleier des Nichtwissens, den Rawls für seine Begründung einführt. Für Rawls ist es völlig logisch, dass man sich hinter dem Schleier des Nichtwissens auf ein Modell einigen würde, in dem Ungleichheit nur soweit toleriert wird, wie sie notwendig ist, um ausreichend Anreize dafür zu schaffen, dass Menschen ihre Begabungen auch zur Entfaltung bringen – und auch das nur, wenn sich dadurch die Lebenssituation der am wenigsten privilegierten Menschen der Gesellschaft verbessert. Auch für mich erscheint diese Schlussfolgerung völlig logisch.

Ich finde die Gerechtigkeitsphilosophie von Rawls ausgesprochen überzeugend. Das heißt nicht, dass es keine Kritik an ihr geben würde. In einem nächsten Blogbeitrag werde ich mich mit einigen prominenten Kritikern auseinandersetzen und erläutern, warum sie mich nicht überzeugen. Dort werde ich auch darlegen, warum die Theorie von Rawls “liberaler” Egalitarismus genannt wird. Warum sie egalitaristisch ist, dürfte in diesem Blog hinreichend klar geworden sein. Warum sie dennoch liberal ist, wird hoffentlich aus dem nächsten Beitrag deutlich.


[1] Ich zitiere hier die neuere Version aus Justice as Fairness, a Restatement. Die Übersetzung ist von mir.

[2] Rawls gibt Beispiele für Grundrechte. Diese sind im wesentlichen deckungsgleich mit den Grundrechten in unserem Grundgesetz

[3] z.B. Peter Diamond und Emmanuel Saez: The Case for a Progressive Tax: From Basic Research to Policy Recommendations, https://www.aeaweb.org/articles?id=10.1257/jep.25.4.165. Oder kürzer zusammengefasst: Fabian Kindermann und Dirk Krüger, High marginal tax rates on the Top 1%, https://voxeu.org/article/high-marginal-tax-rates-top-1

[4] Rawls, Justice as Fairness, S.139

[5] property-owning democracy. a.a.O. S. 135ff


 

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