Wir sollten Hartz IV überwinden. Das Hartz IV System in Deutschland ist zu Recht unpopulär. Es versetzt Menschen in die existentielle Angst, bei einem Schicksalsschlag vom Staat nicht ausreichend aufgefangen zu werden. Nach einer kurzen Zeit mit vertretbarem Arbeitslosengeld wird man in ein als demütigend empfundenes Sozialhilfesystem überführt. Es findet eine strikte Bedürftigkeitsprüfung statt. Bis auf ein Schonvermögen von wenigen Tausend Euro (abhängig vom Lebensalter) müssen zunächst alle Ersparnisse aufgebraucht werden. Wenn man einen als nicht zumutbar empfundenen Job ablehnt, wird man sanktioniert. Und das System baut mit seinen vielen verschiedenen Töpfen mit jeweils unterschiedlichen Zugangs­voraussetzungen so bürokratische und oft entwürdigen­de Hürden auf, dass über ein Drittel der anspruchsberechtigten Menschen ihre Ansprüche nicht geltend machen, vermutlich weil sie ihre Rechte nicht verstehen oder weil sie den Prozess als zu beschämend empfinden. Die Willkür in den Job-Centern ist ein darüber hinaus sehr problematischer Aspekt in Bezug auf die Glaubwürdigkeit und Menschenrechtlichkeit des Systems. Ein Drittel aller Kläger gegen Hartz-IV Maßnahmen erhält recht.

Problematisch bei der derzeitigen Sozialhilfe ist auch die Anreizstruktur, um wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen: Wer sich weigert, eine subjektiv als unzumutbar empfundene Arbeit anzunehmen, wird bestraft. Wer jedoch wieder arbeitet, darf nur maximal 20% des Lohnes be­halten, während meist über 80% 100% des Verdienstes auf die Sozialhilfe angerechnet wird – oder in Ökono­mendeutsch: Die Transferentzugsrate beträgt 80-100% und teilweise sogar absurderweise darüber.

Diese beiden Elemente des Sozialsystems gehen Hand in Hand: wenn Menschen ihren Lohn nicht behalten dürfen, muss man sie oft zur Arbeit zwingen.

Auch die strikte Anrechnung von Ersparnissen birgt negative Anreize: Für Menschen mit geringen Einkom­men ist es schwierig genug, etwas Geld als Vorsorge beiseite zu legen. Wenn sie wissen, dass ihre Ersparnisse bei längerer Arbeitslosigkeit aufgezehrt werden, nimmt dies jeglichen Sparanreiz.

Folgende Reformen sind daher essentiell:

  1. Bürokratieabbau/Zusammenlegung der Leistungen

ALG II, Wohngeld und Kinderzuschlag sollten zusammengelegt werden. Wenn Transferleistun­gen aus einer Hand ausgezahlt werden. Dies baut relevante bürokratische Hürden ab.

  1. Automatische Auszahlung

De Auszahlung der Leistungen sollte automatisch durch das Finanzamt erfolgen. Wer einen Anspruch hat, muss diesen auch bekommen und nicht nur diejenigen, die besonders clever sind oder besonders geringe Hemmungen haben.

Dadurch, dass die Transferleistungen ins Steuersystem integriert werden und vom Finanzamt automatisch ausbezahlt werden, verlieren so Menschen mit niedrigen Löhnen das Stigma der „Aufstocker“.

  1. Erhöhung des Schonvermögens

Sparsame Menschen sollten nicht bestrafen bestraft werden und weniger  Sozialhilfe erhalten, als Menschen, die nichts gespart haben. Die Freigrenze für Ersparnisse sollte daher deutlich angehoben werden. Derzeit beträgt die Freigrenze 3.850 bis maximal 10.050 Euro pro Person. Das Vermögen eines durchschnittlichen Haushaltes in Deutschland beträgt 60.400 Euro.[1] Das sogenannte Schonvermögen sollte wenigstens auf diesen Betrag angehoben werden.

Damit die Auszahlung der Grundsicherung durch die Finanzämter trotzdem möglich ist (s. Punkt 2), müssten die Anspruchsberechtigten dem Finanzamt in einer Steuererklärung bestätigen, dass ihre Ersparnisse geringer als 60.400 Euro sind. Eine falsche Erklärung würde wie eine Steuerhinterziehung geahndet.

  1. Abschaffung Sanktionen

Arbeitsmarktpolitik sollte auf Anreize, Motivation, Anerkennung und Beratung setzen und nicht auf Sanktionen. Die Grundsicherung in Deutschland deckt das gesellschaftliche Existenzminimum ab. Eine Kürzung dieses Betrages ist eigentlich unvertretbar. Menschen sollten nicht gezwungen werden, einen Job anzunehmen, den sie subjektiv als unzumutbar ansehen. Jobcenter sollen moti­vie­ren und nicht Angst einflößen. Das Sanktionssystem von Hartz IV sollte daher beendet werden und durch mehr Anreize (Punkt 5) abgelöst werden.

  1. Absenkung Transferentzugsrate

Zur Motivation gehören nicht nur gute Worte, sondern auch ein angemessener Lohn. Wenn der Spitzensteuersatz bei 80-100% liegen würde, gäbe es einen Aufstand in Deutschland. Wäh­rend es für Gutverdienende als vollkommen normal angesehen wird, dass der Staat ihr Einkommen nicht konfiszieren darf, gilt dies für Geringverdie­nende nicht. Sie dürfen teilweise nichts oder nur bis zu 10 oder 20% ihres zusätzlichen Einkommens behalten.

Diese so genannte Transferentzugsrate sollte daher deutlich abgesenket und vereinheitlicht werden. Mit einer Absenkung der Transferentzugsrate auf 60-70% würden die Anreize auf Arbeit deutlich erhöht. Die Arbeitnehmenden könnten dann zumindest 30-40% ihres Zuverdiensts behalten. Das ist deutlich spürbarer als 0, 10 oder 20% und gibt der Arbeit ein bisschen Würde zurück.

Geringverdienende würden durch die Entlastung am meisten profitieren. Durch den deutlich geringeren Transferentzug ist dies aber nicht nur eine Maßnahme für das unterste Ende der Einkommensverteilung. Auch die Mittelschicht profitiert davon, weil sie dank der niedrigen Transferentzugsrate zusätzlich zu ihrem Arbeitseinkommen noch einen Teil des Garantieeinkommens beziehen würden.

Damit kontrastiert diese Maßnahme drastisch zu der von CDU/CSU und FDP propagierten Abschaffung des Solidaritätsbeitrages. Die Graphik ganz oben zeigt dies deutlich.

  1. Grundsicherung darf nicht ausgenutzt werden

Die Reformvorschläge beruhen auf einer Gerechtigkeitsphilosophie der Reziprozität: die Mitglieder der Gesellschaft werden unterstützt, weil sie sich auch in die Gesellschaft einbringen und ihre Regeln akzeptieren.

Ein gängiges Argument für das derzeitige System der Sozialhilfe ist, dass diese Reziprozität nur möglich wäre, wenn Menschen, die nicht arbeiten, sanktioniert würden. Die Menschen würden bei einer automatischen Auszahlung ihrer Ansprüche ohne Sanktionen gar nicht mehr arbeiten oder Schwarzarbeit nachgehen.

Auch wenn ich dieses Menschenbild nicht teile, sehe ich doch diese grundsätzliche Gefahr. Sie könnte mit zwei Randbedingungen zu Reformvorschlägen begegnet werden:

  • Die reformierte Grundsicherung sollte nur das soziale Existenzminimum zur Teilhabe an der Gesellschaft abdecken. Die derzeitigen Sätze sollten daher nur angehoben werden, wenn dieses Prinzip verletzt wird. Dafür würde die Transferentzugsrate deutlich gesenkt, so dass Menschen, die arbeiten, deutlich mehr zum Leben haben als heute, selbst wenn sie nur wenig verdienen.
  • Schwarzarbeit sollte in Zukunft konsequenter als Straftat geahndet werden. Die Strafen sollten sowohl für die Arbeitgeber*innen, wie für die schwarzarbeitenden so hoch sein, dass sie trotz niedriger Wahrscheinlichkeit entdeckt zu werden, eine wirklich abschreckende Wirkung erzielen. Diese Strafen sollen konsequent vollzogen werden.

Budgetrestriktion

Je nach Ausgestaltung lässt sich diese Reform um Hartz IV zu überwinden für 15-30 Milliarden Euro durchführen. Wenn auf die Abschaffung des Solidaritätsbeitrages verzichtet wird (diese kostet fast 20 Milliarden Euro), könnte der Rest über eine Steuererhöhung von hohen Einkommen (über 120.000 Euro) finanziert werden.

Das ifo Institut hat in Zusammenarbeit mit der BAG Wirtschaft und Finanzen von Bündnis 90/Die Grünen eine detaillierte Berechnung zu den Kosten und Nutzen verschiedener Varianten der oben dargestellten Reformen durchgeführt. Sobald der Endbericht vorliegt, werde ich ihn hier verlinken.

Robert Habeck hat aufbauend auf die Arbeit der BAG Wirtschaft und Finanzen sein Reformkonzept Hartz IV überwinden vorgestellt und übernimmt dabei fast alle der oben geforderten Reformen.

 


[1]Medianvermögen in Deutschland. Quelle Bundesbank PHF Studie, März 2016


 

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