Die aktuelle Polemik um den Einkommensmillionär Friedrich Merz zeigt, wie wichtig es ist, dass wir uns grundsätzlich mit der Frage auseinandersetzen, was eigentlich unser Leitbild einer gerechten Gesellschaft ist. In einem ersten Blogbeitrag habe ich geschildert, warum mich der liberale Egalitarismus von John Rawls am meisten überzeugt: monetäre Anreize sind sinnvoll, wenn sie dazu führen, dass Menschen in ihre Talente investieren und diese voll zur Entfaltung bringen. Diese Anreize müssen aber bei weitem nicht so hoch sein wie heute, sprich die Steuern auf sehr hohe Einkommen (Profifussballer, Top-Manager, etc.) können deutlich angehoben werden.

Ich habe lange gedacht, dass John Rawls Theorie der Gerechtigkeit so überzeugend ist, dass sie allenfalls von radikalen Sozialisten oder noch radikaleren Marktlibertären kritisiert würde. Inzwischen musste ich lernen, dass es auch progressive Kommunitaristen gibt, die Rawls ernsthaft in Frage stellen. Und zwar auch solche, die ich persönlich kenne und extrem wertschätze. Daher habe ich mir die Mühe gemacht und Michaels Sandels Liberalism and the Limits of Justice gelesen, sowie zusätzlich umfangreiche Sekundärliteratur zum Kommunitarismus. Aber auch danach überzeugt mich Rawls Theorie der Verteilungsgerechtigkeit immer noch deutlich mehr als die der Kommunitaristen. Die Kommunitaristen[1] haben nämlich gar keine eigene Vision von Verteilungsgerechtigkeit entwickelt. Sie kritisieren lediglich das liberale Menschenbild von Rawls und fordern, dass wir unsere Gesellschaft nicht atomisieren lassen dürfen. Rawls Gerechtigkeitsphilosophie schließt aber Gemeinschaft keineswegs aus, so dass aus meiner Sicht Rawlsche Verteilungsgerechtigkeit sehr wohl mit zentralen Forderungen von Sandel vereinbar sind.

In meinem letzten Blogbeitrag zu Gerechtigkeit habe ich die zentralen Inhalte von Rawls Gerechtigkeitstheorie geschildert. Hier gehe ich jetzt zunächst sehr kurz auf die marktlibertäre, dann auf die sozialistische und schlieplich ausführlicher auf die kommunitaristische Kritik ein.

Robert Nozick hat mit Anarchy, State, and Utopia 1974 einen marklibertären Gegenentwurf zu John Rawls vorgelegt. Für ihn ist jede Form der Umverteilung ungerecht und er fordert einen minimalistischen Nachtwächterstaat. Nun, wenn man die Sinnhaftigkeit einer gut organsierten Gesellschaft mit solide finanzierten öffentlichen Gütern ablehnt, kann man soziale Gerechtigkeit verteufeln. Aber wer will ernsthaft in einem Nachtwächterstaat leben?

Von linker Seite kommt die bekannteste Kritik wahrscheinlich von G.A. Cohen, zum Beispiel mit seinem Buch „If You’re an Egalitarian, How Come You’re so Rich?“, in dem er sich dafür ausspricht, dass man als Linker nicht auf einen gerechten Staat warten solle, sondern schon vorher einen so großen Teil seines Vermögen für gute Zwecke spenden sollte, wie ein gerechter Staat auch Steuern erhoben hätte. Noch bekannter ist sein kleines Büchlein „Why not Socialism?“, in dem Cohen seine Leser auf einen Campingausflug mitnimmt und aufzeigt, wie absurd das Leistungs- und Anreizprinzip eigentlich ist. In einer solchen Gemeinschaft würden alle so viel geben, wie sie oder er in der Lage sind und so viel bekommen, wie notwendig und anhand der gemeinsamen Ressourcen möglich.

So schön diese sozialistische Utopie auch ist, sie funktioniert nur in kleinen Gemeinschaften mit starkem Zugehörigkeitsgefühl. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir auch mit dem besten Schulsystem und perfekten Vorbildern in prominenten Positionen ein Gemeinwesen mit Millionen von Menschen nicht ohne materielle Anreize gestalten können. Wir achtzig Millionen Menschen in Deutschland sind nun einmal nicht auf einem freiwilligen gemeinsamen Campingausflug.

Ich bin auch der festen Überzeugung, dass es wichtig ist, Menschen aus absoluter Armut zu befreien und nicht nur relative Armut, sprich die Ungleichheit zu senken. Es mag zwar sein, dass wir in Deutschland nicht wirklich glücklicher sind als Menschen in der Sahelzone. Aber daraus zu schließen, dass es sich nicht lohnen würde, die materielle Lebenssituation von Menschen in Armut zu verbessern, kommt mir aus Sicht eines Wohlstandsbürgers in Deutschland arg überheblich vor. Rawls Modell radikaler Umverteilung verbunden mit ausreichend hohen Anreizen, um so den absoluten Wohlstand der Schwächeren in der Gesellschaft anzuheben, scheint mir daher wesentlich angemessener.

Ich weiß, dass mit diesem Argument auch die marktlibertäre Deregulierung der 1980er Jahre und die radikale Senkung der Steuersätze dieser Zeit begründet wurden. Aber die Zeit hat doch gezeigt, dass die Entfesselung der Finanzmärkte nicht nur nicht den Wohlstand beflügelt hat, sondern auch noch die größte und teuerste Krise seit der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre ausgelöst hat. Auch die obszönen Managergehälter hat man so gerechtfertigt. Aber auch das erscheint mir völlig neben der Sache: als ob deutsche Vorstände in Massen in die USA auswandern würden, um dort ihr Glück zu suchen, wenn sie hier nur fünfzig Tausend anstatt einer halben Million Euro im Monat verdienen würden. Wenn man also Rawls Prinzipien der Gerechtigkeit und die moderne ökonomische Theorie optimaler Steuersätze kombiniert, kommt man zu ganz dramatisch anderer Umverteilung und sozialer Gerechtigkeit, als wir in Deutschland gewöhnt sind.

Eine ganz andere Kritik kommt von den Kommunitaristen. Der Kommunitarismus ist eine philosophisch-politische Reaktion auf scheinbare Zerfallstendenzen der zunehmend individualistischen, liberalen Wohlstandsgesellschaft, in der die Orientierung an Werten wie sozialer Verantwortung und Solidarität nachlässt.[2] Die bekanntesten Kommunitaristen sind Philosophen und Soziologen wie Michael Walzer, Charles Taylor, Robert Putnam, Amitai Etzioni und insbesondere Michael Sandel, der mit Liberalism and the Limits of Justice, die profundeste kommunitaristische Kritik an Rawls geschrieben hat.

Sandels Kritik ist aber kein Gegenentwurf einer Gerechtigkeitstheorie. Er steigt tief in das philosophische Fundament der Rawlschen Theorie ein, diskutiert zum Beispiel die Plausibilität des hinter dem Schleiers des Nichtwissens geschlossenen Gesellschaftsvertrags und stellt die Frage, ob der Gesellschaftsvertrag von echten Menschen geschlossen werden könnte, wie von Rawls intendiert, oder von transzendenten Wesen, wie in dem Gesellschaftsvertrag von Kant. Alles in Allem eine sehr abstrakte philosophische Lektüre und nur geduldigen Fachleuten zu empfehlen.

Wer verstehen will, warum Sandel zum internationalen Bestseller und Starphilosphen aufgestiegen ist, sollte sich daher lieber sein sehr gut zu lesendes Buch Justicevornehmen. Darin erläutert er an sehr konkreten Fragen, wie zum Beispiel einer Freiwilligenarmee, Nierentransplantationen, Abtreibung, gleichgeschlechtlicher Ehe oder Stammzellenforschung, die Position der Marktliberalen, Kant, Rawls, Aristotels oder eben der Kommunitaristen.

Sandel fasst in seinem Kapitel „the case for equality – John Rawls” die Positionen von Rawls sehr überzeugend zusammen und gibt viele eigene, höchst anschauliche und verständliche Argumente dafür, warum die von Rawls genannten Gerechtigkeitsprinzipien sinnvoll sind. Er schließt sein Kapitel mit dem Satz: „Ob die Theorie von Rawls am Ende Erfolg hat oder nicht, sie stellt jedenfalls die zwingendste Darlegung für eine gleichere Gesellschaft dar, die amerikanische politische Philosophie je hervorgebracht hat.“[3]

Sandel kritisiert also nicht die von Rawls vertretene Position, dass mehr Gleichheit geboten ist. Er fordert nicht mehr oder weniger und auch keine andere Form der Umverteilung als Rawls.[4] Sandel entwickelt gar keine eigene Theorie sozialer Gerechtigkeit. Für Sandel geht es bei Gerechtigkeit nämlich nicht so sehr um Verteilungsfragen. Um Gerechtigkeit zu erzielen, muss man vielmehr Tugend kultivieren und über das Gemeinwohl sowie die Bedeutung eines guten Lebens streiten. Es geht nicht nur darum, wie wir die Dinge verteilen, sondern auch wie wir sie bewerten.[5]

Michael Walzer treibt diese Logik auf die Spitze. Er entwickelt eine Theorie der komplexen Gleichheit, in der die Gesellschaft kunstvoll in verschiedene Sphären aufgeteilt wird. Der Staat soll sich zum Beispiel aus den Kirchen oder Universitäten heraushalten und der Markt darf nicht den Staat korrumpieren. Viele Güter, wie zum Beispiel politische Macht, gesellschaftliche Auszeichnungen, Sicherheit, Liebe und Freundschaft, müssen der Marktlogik entzogen werden und dürfen nicht käuflich sein. Aufgrund der fein säuberlich getrennten Sphären, in denen jeweils andere Regeln herrschen, spielt die in Geld gemessene Ungleichheit für Walzer eigentlich keine so wichtige Rolle mehr.[6]

Aus meiner Sicht ist es zwar absolut richtig, dass der Markt nicht alles regeln darf. Man soll sich nicht durch Geld vom Wehrdienst befreien dürfen und politische Ämter dürfen genauso wenig wie menschliche Organe oder Doktortitel käuflich sein. Doch selbst wenn es uns gelänge, den Lobbyismus und andere verwerfliche Exzesse von Marktmacht drastisch zurückzudrängen, so lösen wir damit nicht die aus meiner Sicht ebenfalls wichtige Frage von Verteilungsgerechtigkeit.

Wenn Sandel also nicht wirklich die Form der Verteilungsgerechtigkeit und die Gleichheitsideale von Rawls kritisiert, was stört die Kommunitaristen dann? Es geht ihnen um das philosophische Menschen- und Gesellschaftsbild des Liberalismus. Liberal darf hier keineswegs mit dem Begriff der deutschen politischen Alltagssprache und der philosophischen Leere einer FDP verwechselt werden. Viele Linke sind vielleicht deshalb Rawls gegenüber skeptisch eingestellt, weil sie bei dem Begriff liberal an primitive Marktlibertäre denken und nicht an die Befreiung der Menschen von der moralischen Zwangsjacke der vergangenen Jahrhunderte.

Mit liberal ist gemeint, dass der Staat sich aus so grundlegenden Dingen wie unserem Verhältnis zu Religion oder zu Sexualität herauszuhalten hat. Der Staat soll uns unsere Grundrechte garantieren und nicht vorschreiben, was ein gutes Leben ist und was nicht. Genau diese Form des Liberalismus kritisieren die Kommunistaristen. Sandel spitzt es folgendermaßen zu: so wie konservative Liberale zu Unrecht die Neutralität des Staates in Wirtschaftsthemen einfordern, ist es falsch, dass sich progressive Liberale für die Neutralität des Staates in moralischen Themen (Homosexualität, Abtreibung, etc.) stark machen. Gemäß Sandel ist die derzeitige moralische Neutralität der Politik in unseren liberalen und pluralistischen Gesellschaften eine Steilvorlage für engen, intoleranten Moralismus: „Fundamentalisten betreten die Bühne dort, wo Liberale Angst haben.“[7]

Zusammengefasst kritisieren Kommunitaristen den Liberalismus und insbesondere Rawls mit folgenden zentralen Argumenten:[8]

  • Liberalismus unterminiert die Gemeinschaft und ohne Gemeinschaft kann es kein gutes Leben für Menschen geben
  • Liberalismus zeigt keine ausreichende Wertschätzung für politische Partizipation
  • Liberalismus ist nicht kompatibel mit den Verpflichtungen, in die man hineingeboren ist, also zum Beispiel die Familie, eine Stammesgemeinschaft oder eine Nation
  • Liberalismus geht von einem falschen Menschenbild aus. Menschen sind nicht frei und losgelöst von Verpflichtungen und tradierten Werten. Auch nicht in der hypothetischen Situation eines Schleiers des Unwissens.
  • Liberalismus überbewertet Gerechtigkeit. Diese ist nur notwendig, wenn die höheren Tugenden einer gut funktionierenden Gemeinschaft versagt haben.

Mir erscheint diese Kritik überzogen. Vermutlich fehlt mir die philosophische Grundausbildung, um die Kritik Sandels in Liberalism and the Limits of Justice in Gänze nachzuvollziehen. Ich habe jedenfalls bei der Lektüre von Rawls nicht wahrgenommen, dass dessen Philosophie auf einem rein individualistischen Menschenbild beruht. Ich bin auch nicht der einzige, der das so sieht. Allen Buchanan[9] zum Beispiel zeigt, dass Rawls keineswegs Individualismus predigt. Nur hinter dem hypothetischen Schleier des Nichtwissens sollen sich die Menschen von ihren tradierten Gemeinschaften lösen und eine neutrale Position einnehmen. Im realen Leben spielt Gemeinschaft sehr wohl auch für Rawls eine wichtige Rolle, damit Menschen ein erfülltes Leben führen können. Sie sollen sich aber frei entscheiden dürfen, ob sie zum Beispiel Christen oder Buddhisten sein wollen, oder ob sie einen Mann oder eine Frau lieben wollen. Diese Fragen sollen nicht von der Gemeinschaft diktiert werden, in die sie zufällig hineingeboren wurden.

Die von Rawls als so primär wichtig erachteten Grundrechte wie zum Beispiel Versammlungs- oder Meinungsfreiheit schützen doch gerade auch Gemeinschaften, insbesondere Gemeinschaften von Minderheiten. Die Aussage von Sandel, dass Recht und Gerechtigkeit in einer gut funktionierenden Gemeinschaft eigentlich nicht notwendig ist,[10] mag allenfalls noch für eine kleine Familie gelten, aber kaum für eine große Gesellschaft, in der das Pochen auf gemeinsamen tradierten Werten leicht dazu führen kann, dass die Werte von Minderheiten mit den Füßen getreten werden.

Amy Gutmann drückt es noch drastischer aus: Gerade in Gesellschaften, in denen tradierte Werte groß geschrieben wurden, kam es zur Verfolgung von Minderheiten: Wo ist denn die Gefahr größer, dass die moralisierende Mehrheit Hexenjagden veranstaltet? Wenn liberale Grundrechte nicht durchgesetzt werden oder wenn die Volksgemeinschaft nicht gefestigt genug ist?[11]  Liberale Gerechtigkeitstheorie versucht Prinzipien und Regeln zu definieren, mit denen Menschen friedlich zusammenleben und sich trotzdem über fundamentale oder metaphysische Fragen uneinig sein können. Liberale Gerechtigkeit liefert uns keine umfassende Moral. Sie regelt unsere sozialen Institutionen, nicht unser gesamtes Leben. Sie ist der fairste modus vivendi einer pluralistischen Gesellschaft.[12]

Amy Gutmann plädiert daher dafür, Rawls Gerechtigkeitstheorie mit zentralen Forderungen der Kommunitarier zu verbinden. Aus meiner Sicht ist genau das die Lösung.

Rawls Gerechtigkeitstheorie setzt voraus, dass die Menschen gemeinsam in einer Gesellschaft leben wollen. Das ist die Grundbedingung dafür, dass sie sich Regeln für eine gerechte Gesellschaft geben. Rawls betont dabei den Gedanken der Gegenseitigkeit („reciprocity“). Alle Menschen behandeln sich mit gegenseitigem Respekt und erkennen an, dass jeder seinen Teil zur Gesellschaft beiträgt, auch diejenigen, die weniger Glück im Leben gehabt haben und die über geringere Ressourcen verfügen. Aus diesem gegenseitigen Respekt heraus nutzen die vom Schicksal Begünstigten ihre Talente auch nicht nur für sich, sondern auch zum Wohl der weniger Begünstigten.[13]

Daher spricht aus meiner Sicht für einen Liberalen weder etwas dagegen, in öffentlichen Diskussionen Wertvorstellungen zu äußern, noch gemeinschaftliche Institutionen zu fördern. Warum soll man nicht zum Beispiel Abtreibung oder gleichgeschlechtliche Ehe als zutiefst moralische Frage diskutieren anstatt sich hinter der Neutralität des Staates zu verschanzen? Sandel hat aus meiner Sicht recht, dass es eine moralische Frage ist, warum der Staat überhaupt die Ehe sanktioniert und fördert. Offen über Wertvorstellung und Moral zu debattieren ist aber etwas ganz anderes, als wenn die christliche Mehrheit in einem Land mit Hinweis auf Bibel die Diskussion über diese Themen gar nicht erst aufkommen lässt.

Genauso spricht viel dafür, gemeinnützige Vereine zu fördern und für die Gesellschaft besonders wichtige gemeinschaftliche Institutionen wie zum Beispiel die Kirche oder die Gewerkschaften noch intensiver zu unterstützen. Was spricht aus liberaler Sicht zum Beispiel dagegen, die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft von einem opt-in auf ein opt-out Modell umzustellen? Heute muss sich jeder Arbeitnehmer explizit dafür entscheiden, in die Gewerkschaft einzutreten (opt-in). Man könnte es auch umgekehrt regeln und jedes Arbeitsverhältnis mit einer Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft koppeln. Jeder Arbeitnehmer hätte dann das Recht, sich gegen die Gewerkschaft zu entscheiden und die Mitgliedschaft explizit zu kündigen (opt-out). Auch damit wären keine individuellen Freiheitsrechte verletzt, aber die Mitgliedschaft in Gewerkschaften würde zum Normalfall, was sicherlich viele Vorteile für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft hätte. Heute haben wir die Mitgliedschaft in den Kirchen bereits auf diese Weise geregelt: Der Staat zieht die Kirchensteuer ein, wenn kein opt-out erfolgt. Aus liberaler Sicht wäre allerdings wichtig, dass der Staat nicht nur die christliche Kirche so fördert und nicht nur deren Kreuze in den Amtstuben aufgehängt, sondern alle Religionsgemeinschaften in einem Land das gleiche Privileg genießen.

Es spricht auch viel dafür Gemeinschaft zu fördern, in dem Bürgern auch Pflichten auferlegt werden. Auch Rawls erkennt dies explizit an. Daher ist auch die kommunitaristische Kritik an einer Berufsarmee und Sandels Forderung nach einem allgemeinen Wehr- und Zivildienst mit liberalen Grundprinzipien voll vereinbar.

Sandel fordert außerdem, dass eine gemeinwohlorientierte Politik als primäres Ziel haben sollte, die Infrastruktur des bürgerlichen Zusammenlebens wieder aufzubauen. Anstatt sich auf Umverteilung zu fokussieren, damit ärmere Bürger sich mehr privaten Konsum leisten können, sollte der Staat lieber die Wohlhabenden besteuern, um damit ausreichend gemeinschaftliche Einrichtungen und Infrastruktur zu finanzieren. Und zwar solche Einrichtungen, die alle Bürger gerne nutzen: Spielplätze, Parks, Museen oder öffentlicher Transport. Alle Bürger sollten zum Beispiel gerne mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren und nicht die Reichen mit dem Auto und die Armen mit dem Bus.[14]

Auch diese Forderung lässt sich mit dem liberalen Egalitarismus von Rawls vereinbaren. Es gibt doch keinen Grund, sich als Liberaler gegen gut ausgestatte öffentliche Güter auszusprechen. Im Gegenteil. Allenfalls würde man die Forderung von Sandel nuancieren und sagen, dass der Staat sowohl gute öffentliche Einrichtungen zur Verfügung stellen sollte, wie ausreichende Umverteilung, damit sich auch die weniger Privilegierten privaten Konsum leisten können.

Sandel begründet seine Forderung damit, dass der wachsende Abstand zwischen Arm und Reich dazu führt, dass sich die verschiedenen Gesellschaftsschichten gar nicht mehr begegnen, dass sie in unterschiedlichen Staatvierteln leben, ihre Kinder auf unterschiedliche Schulen schicken und sich noch nicht einmal mehr samstags im Fußballstadion sehen, weil da die Reichen dort in VIP-Lounges sitzen. Dies unterminiert die Solidarität in einer Gesellschaft. Warum soll man Steuern oder Sozialversicherung zahlen, wenn damit nicht Gemeinschaftsgüter oder eine Risikoabsicherung finanziert werden, von denen alle Bürger etwas haben. Wenn damit gefühlt nur Menschen alimentiert werden, mit denen man überhaupt nichts gemein hat, dann fehlt die Legitimation.

Auch diese Begründung spricht nicht gegen Rawls Gerechtigkeitstheorie. Der Rawlsche Gesellschaftsvertrag beruht auf dem Willen der ihn schließenden Menschen, in einer Gesellschaft zusammenzuleben und miteinander zu kooperieren. Daher gilt der Vertrag auch nur innerhalb eines Staates und nicht für alle Menschen der gesamten Welt.

Wenn es also überhaupt kein Gemeinschaftsgefühl gibt, keine Gegenseitigkeit im Rawlschen Sinne, dann funktionieren auch die Rawlssche Gerechtigkeitsprinzipien nicht. Ihnen fehlt es schlicht an Legitimität. Man kann das sehr gut in den USA beobachten, wo Arm und Reich noch mehr in Parallelwelten leben als in Europa, und wo die Reichen und die Bedürftigen auch noch meist unterschiedlicher Hautfarbe sind. Dies ist ein wichtiger Grund, weshalb Umverteilung in den USA auf noch weniger Akzeptanz als Europa stößt.[15] Man sieht das auch in Europa, wo es im reichen Deutschland überhaupt nicht vermittelbar zu sein scheint, dass Solidarität und Risikoteilung nicht nur in Deutschland sondern in ganz Europa gelten sollte, weil schließlich auch Italiener und Griechen zu unserer europäischen Gemeinschaft gehören. Ohne dass eine Gesellschaft in soziales Kapital investiert, ohne eine Kultur des gegenseitigen Respekts, kann es keine Gerechtigkeit Rawlscher Prägung geben. Dann ist sogar die Demokratie gefährdet.[16]

Rawls Theorie der Verteilungsgerechtigkeit überzeugt mich daher weiterhin. Sie ist in hohem Maße egalitär, wesentlich mehr als unsere deutsche Gesellschaft. Sie ist aber nicht sozialistisch und daher vereinbar mit einer dynamischen Wirtschaft. Sie ist auch nicht individualistisch und zerstört nicht das für die Legitimität unserer Demokratie so wichtige Gemeinschaftsgefühl unserer Gesellschaft. Sie baut wesentlich auf gegenseitigem Respekt auf und dem Willen in einer Gesellschaft gemeinschaftlich Wohlstand zu schaffen und fair zu teilen. Deswegen sehe ich zentrale Forderungen der gemäßigten Kommunitaristen nicht im Widerspruch zum liberalen Egalitarismus von Rawls.


[1]Mit Ausnahme von Michael Walzer, s.u. im Text

[2]Definition wörtlich übernommen von Walter Reese-Schäfer, Kommunitarismus, Campus 2001

[3]Sandel, Justice, S. 166

[4]Mit Ausnahme von vielleicht Michael Walzer fordern auch die Kommunitarier keine andere Form von Verteilungsgerechtigkeit als Rawls. Vgl Allen Buchannan, Assessing the Communitarian Critique of Liberalism, Ethics Juli 1989, S. 854.

[5]Sandel, Justice, S. 260f

[6]Michael Walzer, Spheres of Justice. A Defense of Pluralism and Equality, 1983. Meine Zusammenfassung stammt aus Walter Reese-Schäfer, Kommunitarismus, 2001, 5. Kapitel

[7]Sandel, Justice, S. 243 und 247

[8]Die Auflistung stammt aus Allen E. Buchanan, Assessing the Communitairan Critique of Liberalism, Ethics,July 1989

[9]a.a.O.

[10]Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, S. 31. Sandel schreibt dort: „Gerechtigkeit ist die erste Tugend von sozialen Institutionen nicht absolut, sondern nur relativ gesehen, so wie Kampfesmut im Krieg.“

[11]Amy Gutmann, Communitarian Critics of Liberalism, Philosophy and Public Affairs, Summer 1985, S. 319

[12]A.a.O. S. 313

[13]Rawls, Justice as Fairness, S. 76f

[14]Sandel, Justice, S. 267

[15]Vgl z.B. Alberto Alesina and Edward Glaeser, Fighting Poverty in the US and Europe – A world of Difference, 2004

[16]Vgl. Robert Putnam, Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy, 1993


 

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