Seit dem Dieselskandal und dem Fernsehduell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz weiß die Welt, dass in Deutschland Verbraucher keine Chance haben, ihr Recht gegen große Unternehmen durchzusetzen. Anstatt sich an Sammelklagen in den USA zu orientieren, diskutieren wir über einen Papiertiger: Musterfeststellungsklagen, vor denen die Industrie keine Sorge haben muss. Zum Glück ist die EU-Kommission nicht ganz so industriehörig wie die große Koalition in Deutschland. Kein Wunder, dass sich der BDI-Präsident „sehr besorgt“ zeigt.

Eine Musterfeststellungklage ist zwar eine willkommene Verbes­se­rung des Verbraucherschutzes, sie hat jedoch nichts mit Sammelklagen zu tun, wie man sie aus den USA kennt. Wenn die GroKo demnächst wirklich das Recht auf Musterfeststellungsklagen einführt, sollen Verbraucherschutzorganisationen eine „Musterfeststellung“ einklagen können. Das Gericht stellt dann fest, dass es einen Rechtsverstoß gibt. Verbraucher können so leichter zu ihrem Recht zu kommen. Sie müssen das Fehlverhalten des Unternehmens nicht mehr beweisen. Sie müssen allerdings immer noch individuell vor Gericht ziehen und einen Schaden nachweisen. Nur dann muss das Unternehmen ihnen einen Schadensersatz leisten.

Im Unterschied zu US Sammelklagen können Unternehmen bei einer Musterfeststellungsklage also weiterhin damit rechnen, dass ein Großteil der geschädigten Ver­braucher darauf verzichtet, Schadensersatz einzufor­dern, schließlich kostet so ein individuelles Gerichtsverfahren immer noch viel Zeit, Mühe und Geld, selbst wenn es bereits eine Musterfeststellung gibt. In den USA hingegen sind alle Geschädigten automa­tisch vertreten (opt-out Verfahren) und die Rechtsfolge der Sammelklage ist nicht nur eine Musterfeststellung, sondern gleich ein Schadensersatz. Die geschädigten Verbraucher müssen dort also nicht mehr individuell ihre Schadenshöhe beweisen. Die Verbraucher in den USA erhalten einen sogenannten pauschalen Strafschadensersatz (puni­tive damages), der meist ein Vielfaches des wirklichen Schadens beträgt, während in Deutschland nur der tatsächlich bewiesene Schaden ersetzt wird (eine detaillierte Beschreibung der Unterschiede gibt es hier von Professor Astrid Stadler).

Das hat zwei wesentliche Vorteile: Verbraucher kommen wirklich zu ihrem Recht und die Unternehmen haben einen rationalen Anreiz, Verbraucherschutz ernst zu nehmen.

Unternehmen verhalten sich in der Regel rational und gewinnmaximierend. Ihre Vorstände haben eine Treuhandpflicht gegenüber den Eigentümern. Zwar gilt in Deutschland nicht allein das shareholder value Prinzip, aber dennoch müssen sie den Unternehmenswert bei ihrem Handeln im Auge behalten. Wenn es also Möglichkeiten gibt, den Gewinn nachhaltig zu steigern, müssen sie diese wahrnehmen. Deshalb darf es sich für Unternehmen nicht lohnen, Regelverstöße zu begehen. Der durch einen Regelverstoß zusätzlich erzielbare Gewinn muss geringer sein, als das mit der Entdeckungswahrscheinlichkeit multiplizierte Bußgeld. Heute ist dies oft nicht der Fall.

Wenn Unternehmen Vorschriften missachten und von ihren Kunden zum Beispiel eine nicht erlaubte kleine Gebühr kassieren oder ihren Mitarbeitern nicht den Mindestlohn zahlen, wissen sie, dass die Wahrscheinlichkeit entdeckt zu werden deutlich unter Hundert Prozent liegt. Selbst wenn sie entdeckt würden, klagen niemals alle Betroffenen. Dies liegt daran, dass der Schaden für die Betroffenen oft nicht so hoch ist, dass sich Kosten, Zeit und Mühe lohnen würden, vor Gericht zu ziehen. Und selbst wenn im schlimmsten Fall alle Betroffenen tatsächlich klagen würden, müssten die Unternehmen nur den tatsächlichen Schaden ersetzen. Unternehmen haben bei einem Regelverstoß also zunächst einen sicheren zusätzlichen Gewinn und im unwahrscheinlichen schlimmsten Fall müssten sie ausschließlich diesen zusätzlichen Gewinn zurückbezahlen. Manche Regelverstöße werden zwar zusätzlich durch ein Bußgeld geahndet. Dieses ist jedoch bei weitem nicht hoch genug, um abschreckende Wirkung zu entfalten, sprich um zu kompensieren, dass nie alle Betroffenen klagen und dass die Wahrschein­lichkeit entdeckt zu werden relativ gering ist.

 Die in Deutschland klassische Art einem solchen Problem zu begegnen ist, die Regulierung zu verschärfen, die Dokumentationspflichten der Unternehmen zu erhöhen und mehr Perso­nal in den Aufsichtsbehörden einzustellen, damit die Unternehmen öfter kontrolliert werden können. Damit entstehen immer größere und teurere Aufsichtsbehörden und die Unterneh­men beklagen sich immer vehementer über den zusätzlichen bürokratischen Aufwand. Der Mindestlohn zum Beispiel wird weniger wegen der zusätzlichen Lohnkosten kritisiert, als wegen der Dokumentationspflichten. Gerade kleine und mittlere Unternehmen, die sich die Investitionen in elektronische Zeiterfassungen nicht leisten können, kommen angeblich mit dem hohen bürokratischen Zusatzaufwand nicht klar. Dabei lösen auch Dokumentationspflichten und zusätzlichen Kontrolleure das eigentliche Problem nicht. Schwarze Schafe lassen sich auch dadurch nicht abschrecken. Schließlich ist es ist völlig illusorisch, alle Unternehmen so regelmäßig zu prüfen, dass alle Verstöße sicher entdeckt werden und die Strafe ist viel zu niedrig. Und für die regeltreuen Unternehmen werden durch diese Maßnahmen die Bürokratiekosten nur noch weiter verschärft.

Mit guten Klagerechten und harten Sanktionen ließe sich Verbraucherschutz effektiver durchsetzen, als mit kleinteiligen Vorschriften und bürokratischer Detailüberwachung. Beim Mindestlohn zum Beispiel könnte man so auf die ungeliebten Dokumentationspflichten verzichten. Wenn die Geschädigten einen Straf­schadensersatz erhielten, sprich einen Geldbetrag, der den entgangenen Mindestlohn um ein Vielfaches übersteigt, würde es sich für die Mitarbeiter auf einmal lohnen ihre Arbeitszeit zu dokumentieren, diese vom Betriebsrat abzeichnen lassen und vor Gericht zu ziehen. Betrügerische Unternehmen würden so regelmäßig entdeckt und bekämen eine Strafe, die höher ist als der mit der Verletzung des Mindestlohns erzielbare Gewinn. In solch einem Regime hätten schwarze Schafe keinen Anreiz mehr, die Regeln zu brechen, und regeltreue Unternehmen würden sich die Bürokratiekosten sparen.

Der Wirtschaftslobby ist es gelungen, Sammelklagen in schlechtem Licht darzustellen. Sie sind selbst bei Verbraucherschützern unbeliebt. Immer wieder hört man das Argument, dass es in den USA eine “Klageindustrie” gebe. Der Wirt­schafts­lobby ist es gelungen, reiche Verbraucher­anwälte als gierige Parasiten zu brandmarken. Seltsamerweise verschweigen die Wirtschafts­verbände, dass Wirtschaftsanwälte und viele andere Berufs­gruppen in den USA ebenfalls sehr reich werden können. Reichtum von Verbraucheranwälten gilt als obszön. Reichtum von Anwälten der Großunter­nehmen als normal. Angeblich ist die „Klageindustrie“ nur dem schnöden Mammon verpflichtet. Dass diese monetären Anreize aber zu einem effektiven Verbraucherschutz führen, wird verschwiegen.

Die Industrieverbände verschweigen auch, dass es der Industrie in den USA keineswegs schlechter geht als bei uns. Die Innovationskraft ist nicht geringer und das Wirtschaftswachstum nicht niedriger, obwohl die Unternehmen in den USA Verbraucherinteressen wesentlich ernster nehmen müssen als in Europa. So schlecht kann das US-System also wohl nicht sein. Wir sollten daher auch in Europa ernsthaft darüber nachdenken, ob es nicht besser wäre, die Zivilgesellschaft zu stärken, anstatt hochbürokratische Pseudoregulierung zu verabschieden, die oft umgangen und selten kontrolliert wird.

Die EU-Kommission geht in ihrem Vorschlag für kollektive Klagerechte ein Stück weiter als die große Koalition. Zwar sollen auch hier nur gemeinnützige Verbraucherschutzorganisationen klageberechtigt sein (damit sich „gierige“ Verbraucheranwälte nicht bereichern können). Diese sollen aber nicht nur auf Musterfeststellung klagen können, sondern die Unternehmen zwingen können, ihr verbraucherschädliches Verhalten sofort einzustellen und in einigen Fällen auch direkt zu Schadensersatz zu verurteilen. Allerdings scheint die Kommission für große Schäden, wie im VW Fall, eine Ausnahme zu machen und will Mitgliedstaaten erlauben, hier doch den Weg der Musterfeststellungsklage zu gehen – vermutlich ein Tribut an die Autofreunde in der Bundesregierung.

Die Kommission erkennt immerhin auch explizit an, dass die Höhe des Schadensersatzes einen abschreckenden Charakter haben sollte. Allerdings überlässt sie es den Mitgliedstaaten die konkrete Höhe einzusetzen und sie schreibt auch, dass die Strafen „verhältnismäßig“ (proportionate) sein sollen. Kaum vorstellbar, dass die industriefreundliche GroKo daraus einen wirklich abschreckenden Strafschadensersatz in Höhe eines Vielfachen des tatsächlichen Schadens ableitet.

Weder die Kommission noch die große Koalition scheinen sich Gedanken darüber zu machen, wie gemeinnützige Organisationen die Ressourcen für Verbraucherschutzklagen aufbauen sollen. Klagende Organisationen gehen ein hohes Prozessrisiko ein. Sie brauchen einiges an internem Personal und vor allem brauchen sie teure Anwälte, um überhaupt klagen zu können. In den USA gehen die Verbraucheranwälte auch ins Risiko, dafür erhalten sie aber ein Erfolgshonorar. Vielleicht brauchen die Verbraucherschutzorganisationen kein so hohes Honorar. Aber nur von Spenden werden sie niemals so in Vorleistung gehen und viele Missstände vor Gericht bringen können. Wenn also gemeinnützige NGOs anstatt von gewinnorientierten Rechtsanwälten die Klage übernehmen sollen, muss man diese NGOs trotzdem so an dem verhängten Strafschadensersatz beteiligen, dass sie sich das Risiko und die Mühen auch mehrerer verlorener Prozesse in Folge leisten können.

Vermutlich wird es in Europa nie Sammelklagen wie in den USA geben. Wichtig bei allen Kompromissen wäre aber, dass die wahrscheinlichkeits­gewich­tete Sanktion höher ist als der durch das Fehlverhalten erzielte Gewinn. Danach sieht es leider momentan nicht aus. Es ist sehr traurig, dass sich auch Verbraucherschützer von der Industrie einlullen lassen und sich nicht trauen effektive Sammelklagen zu fordern. Sie glauben stattdessen an eine besseren Staat, der endlich harte und nicht von der Industrielobby aufgeweichte Regeln verabschiedet und so viel Personal einstellt, dass er alle Regeln auch lückenlos kontrollieren kann. Aus meiner Sicht ist es aber  illuso­risch zu glauben, dass es eine andere Bundesregierung immun gegen Lobbyismus wäre. Beim Umweltschutz, beim Verbraucherschutz oder bei anderen Fragen, bei denen das Ge­meinwohl im Gegensatz zu Industrieinteressen liegt, nur auf den Staat zu vertrauen, ist blauäugig. Wir brauchen daher wesentlich härtere Rechte für die Zivil­gesell­schaft: Sammelklagen mit wirklich abschreckender Wirkung. Wenn wir im Gegenzug auch die Regulierung deutlich verändern würden, im Sinne von weniger bürokratischen, leichter zu verstehenden, zu befolgenden und zu kontrollierenden “harten aber einfachen” Regeln, dann würde sowohl die Wirtschaft wie auch das Gemeinwohl deutlich profitieren.


 

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