Viele Beobachter der Eurokrise machen zu hohe Staatsverschuldung für die Krise verantwortlich. Da die europäischen Regeln zur Begrenzung der Staatsschulden nicht funktioniert haben, fordern sie mehr Marktdisziplin. Wenn der Markt Staatspleiten für realistisch hält, würde er die Staaten überwachen und durch steigende Zinsen für Disziplin sorgen.

Deshalb fordern die Verfechter von Marktdisziplin (zum Beispiel Becker/Fuest in ihrem Odyseus Komplex, das ich hier ausführlich besprochen habe) ein geordnetes staatliches Insolvenzregime, das heißt überschuldete Staaten sollen leichter einen Schuldenschnitt ihrer Staatsschulden durchsetzen können, sowie eine geringere Verflechtung zwischen Staaten und Banken, damit eine Staatspleite nicht mehr automatisch zu einer großen Bankenkrise führt.

Ich persönlich bin sehr skeptisch, was Marktdisziplin angeht und würde mich über konstruktive Kommentare zu meinem Argumenten in diesem Blog sehr freuen.

Meiner Meinung nach ist fraglich, ob erstens eine Staatsinsolvenz wirklich ohne verheerende Wirtschaftskrise möglich ist, ob zweitens eine Staatsinsolvenz wünschenswert ist, und ob drittens aus dem realistischeren Potential einer Staatsinsolvenz wirklich ausreichend disziplinierende Preissignale kämen.

Auch eine geordnete Staatsinsolvenz dürfte zu einer schweren Wirtschaftskrise führen

Wenn Banken weniger Staatsanleihen halten, insbesondere, wenn strikte Großkreditlimits auch für Staatsanleihen gelten, sind Banken bei einer Staatsinsolvenz nicht mehr unmittelbar von zu hohen Kreditausfällen bedroht. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass es Zweitrunden­effekte geben dürfte. Auch bei der Finanzkrise hätte der Zusammenbruch von Lehman Brothers eigentlich die Finanzwelt nicht so erschüttern dürfen, da keine Bank für mehr als 25% ihres Eigenkapitals Kredite an eine einzelne Bank ausreichen durfte. Keine Bank wäre also unmittelbar durch die Lehman Pleite existentiell bedroht gewesen. Dennoch kam es aufgrund der Zweitrundeneffekte zur Finanzkrise: Die Lehman Pleite löste ein weites Gefühl der Panik aus. Diese allgemeine Panik führte dazu, dass die Wirtschaft überall fast zum Stillstand kam. Die darauf folgende tiefe Rezession führte einer Abwärtsspirale mit weiteren Kreditausfällen, weiteren Bankenpleiten, weiterer Panik und so weiter.

Auch bei einer Staatsinsolvenz ist mit ähnlichem zu rechnen. Nicht nur Banken auch andere institutionelle Anleger, Haushalte und Unternehmen werden hohe Summe verlieren. Die Insolvenz wird mit hoher Unsicherheit und mit einem wirtschaftlichen Einbruch verbunden sein, der sich mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer tiefen Rezession auswachsen wird. Wenn dann die Banken durch den Ausfall der Staatsanleihen einen relevanten Teil ihres Eigenkapitals verloren haben und zudem noch einen hohen Teil ihrer Liquiditätsreserven, kann die allgemeine Panik, die Wirtschaftskrise und die Schwächung der Resilienz der Banken sehr wohl gravierende Dominoeffekte im Finanzsystem auslösen. Es ist jedenfalls kaum vorstellbar, dass selbst mit dem besten Staatsinsolvenzregime der Welt, eine Regierung leichtfertig das Risiko einer massiven Wirtschaftskrise eingehen würde.

Hinzu kommt, dass nicht nur Banken Staatsanleihen halten. Insbesondere, wenn es gelingt, Banken als Käufer von Staatsanleihen deutlich zurückzudrängen, werden die Staatsanleihen entweder direkt von den Bürgern gehalten oder indirekt von Pensionsfonds und Lebensver­sicherungen. Die Staatspleite wird also zu deutlichen Vermögenseinbußen bei den Bürgern eines Staates führen. Davon wären nicht nur die sehr wohlhabenden Bürger betroffen, sondern über den kapitalgedeckten Teil der Altersvorsorge auch ein breiter Teil der Bevöl­kerung. Eine Staatspleite kommt daher mit größter Wahrscheinlichkeit einem politischen Suizid gleich. Ob also wirklich ein Insolvenzregime eine Staatspleite realistischer machen würde, scheint daher zweifelhaft.

Lieber Vermögensabgabe als Schuldenschnitt

Auch normativ scheint uns ein staatlicher Schuldenschnitt nicht wünschenswert. Betroffen wären immer diejenigen, die zufällig am Tag der Insolvenz Staatsanleihen halten. Das sind im Zweifel nicht die sophistizierten amerikanischen Hedgefonds, sondern eher die finanziell ungebildeten, die älteren und schwächeren Bürger des eigenen Staates. Der Schuldenschnitt trifft immer die Bürgerinnen und Bürger des Staates, selbst wenn vordergründig ein großer Teil der Schulden bei institutionellen Anlieger liegt. Auch das Geld einer Bank, einer Versicherungsgesellschaft oder eines Pensionsfonds gehört letztlich den Haushalten. Daher hat eine staatliche Insolvenz immer den Charakter eine Vermögensabgabe, mit dem großen Unterschied allerdings, dass die Insolvenz die Menschen willkürlich trifft und zu Chaos führt. Das heißt, wenn man über einen Schulden­schnitt nachdenkt, dann sollte man lieber gleich eine geordnete Vermögensab­gabe durchfüh­ren.[1] Eine Vermögensabgabe könnte man im Gegensatz zu einer Insolvenz so gestalten, dass sie die Menschen nach ihrer individuellen Leistungsfähigkeit trifft und nicht nach ihrer fehlenden finanziellen Bildung oder nach dem unglücklichen Zufall, ob sie am Tag der Insolvenz Staatsanleihen mittelbar oder unmittelbar halten.

Marktdisziplin wird nicht funktionieren

Drittens ist zweifelhaft, ob eine potentielle staatliche Insolvenz wirklich disziplinierende Wirkung entfalten würde. Damit die Signale wirklich diszipli­nierend wirken, müssten die Zinsen graduell ansteigen und die Staaten auf steigende Zinsen mit zunehmenden Reformen reagieren. Es bringt nichts, wenn die Ampel immer auf Grün steht und erst wenn der Staat wirklich zahlungsunfähig ist, auf Rot um­springt. Angesichts der Problematik multipler Gleichgewichte spricht viel dafür, dass gerade bei einem glaubwür­digen Staatsinsolvenzregime das Umschlagen von einem guten zu einem schlechten Gleich­gewicht plötzlich und massiv auftreten wird.

Es ist auch hoch wahrscheinlich, dass Regierungen trotz steigender Zinsen so lange Schulden aufnehmen, wie es ihnen irgendwie möglich ist. Man braucht sich nur die Zeit vor dem Euro anzusehen, als die Zinsen in Europa noch extrem unterschiedlich waren. Die italienische Regierung zum Beispiel musste in den 1990er Jahren 12-14% Zinsen auf ihre Kredite bieten. Das hat sie nicht von zusätzlichen Schulden abgehalten.

Auch die Erfahrung aus der Eurokrise lässt zweifeln, dass Marktdisziplin funktionieren würde. Alle Länder in der Eurozone haben nach der Einführung des Euro quasi dieselben Zinsen gezahlt, unabhängig davon, wie solide ihre Staatsfinanzen waren. Anstatt, dass die Zinsen langsam angestiegen wären, um den weniger solide wirtschaftenden Ländern sanfte Signale zu geben, sind die Zinsen plötzlich explodiert und zwar in so bedenkliche Höhen, dass gleich der Staatbankrott drohte und keine Zeit mehr zum sinnvollen Gegensteuern bestand. Die Befürworter der Marktdisziplin sind der festen Überzeugung, dass die Märkte vor der Eurokrise die europäischen Verträge schlichtweg ignorierten. In den Verträgen war die Rettung eines insolventen Staates dezidiert verboten. Bis dato hatte es noch keine Krise gegeben und daher noch keinen Präzedenzfall. Warum rationale Marktteilnehmer einen solchen Vertrag einfach ignorieren sollten, bleibt unklar. Zum Teil liest man, dass die Marktteilnehmer wussten, wie fragil das europäische Bankensystem war und wie verwoben die Bankbilanzen mit den Staatsfinanzen waren.[2] Die Investoren hätten also die Finanzkrise und die folgende Eurokrise rational antizipiert und deshalb keine Risikoprämien verlangt. Diese These scheint mir etwas gewagt. Fakt ist, dass die Marktdisziplin nicht funktionierte.

Es sieht auch nicht so aus, als ob außerhalb der Eurozone wirklich Marktdisziplin funktio­nie­ren würde. Verschiedene Studien haben den Zusammenhang zwischen Verschuldung und Risikoprämien analysiert.[3] Die Studien sehen zwar einen Zusammenhang zwischen Verschuldung und Risikoprämie, allerdings ist dieser äußerst gering. Ein Anstieg des Schuldenstandes um einen Prozentpunkt führt nach Ansicht dieser Studien um einen Anstieg der Zinsen um wenige Basispunkte. Ein Basispunkt entspricht einem Hundertstel Prozent. D.h. wenn ein Land vorher 3,0% Zinsen gezahlt hat und die Zinsen um 50 Basispunkte steigen, geht der Zinssatz also auf 3,5%. Dies scheint sich auch nicht gravierend zu ändern, wenn der Schuldenstand eine Schwelle von zum Beispiel 100% vom BIP überschreitet. Dann steigt der Zinssatz nicht mehr um einen, sondern um zwei Basispunkte.[4] Das sind natürlich Warnsignale. Aber ob ein Land nun 3% oder 3,5% Zinsen bezahlt, also 50 Basispunkte mehr, wird kaum ausreichen, um zu verhindern, dass der Schuldenstand von 100 auf 125% vom BIP ansteigt. Eine wirkliche disziplinierende Wirkung sieht anders aus.

Noch problematischer ist die Tatsache, dass Risikoprämien weltweit hochgradig volatil sind und im Gleichklang schwanken. Der Zinssatz für ein Land hängt weniger von der jeweiligen Verschuldung ab als von dem allgemeinen Risikoappetit auf den Finanzmärkten.[5] Die Geschichte hat über Jahrhunderte gezeigt, dass Investoren nicht in der Lage sind, rational mit steigenden Schuldenständen umzugehen. Immer wieder haben sie sich mit der Ausrede beruhigt: „This time is different“[6].

Warum Finanzmärkte, die mit ihren animal spirits immer wieder zu Übertreibungen in beide Richtungen neigen, effektiv für Disziplin sorgen sollen, ist mir schleierhaft. Meiner Meinung nach sollten wir nicht auf den Markt vertrauen, wenn wir die staatliche Verschuldung begrenzen wollen.


[1] Das ist im übrigen die Position selbst einer eher konservativen Institution wie der Bundesbank. Vgl: Deutsche Bundesbank, Einmalige Vermögensabgabe als Instrument zur Lösung nationaler Solvenzkrisen im bestehenden EWU-Rahmen?, Monatsbericht Januar 2014

[2] cf Fuest: Odysseuskomplex

[3] Für einen Überblick: Haugh, D., P. Ollivaud and D. Turner (2009), “What Drives Sovereign Risk Premiums?: An Analysis of Recent Evidence from the Euro Area”, OECD Economics Department Working Papers, No. 718, OECD Publishing. http://dx.doi.org/10.1787/222675756166

[4] Conway and Orr (2002) zitiert in Ollivaud and Turner, s.o.

[5] cf. Longstaff, Francis A et al. “How Sovereign Is Sovereign Credit Risk?” American Economic Journal: Macroeconomics 3.2 (2011)

[6] cf, Reinhart und Rogoff, This Time is Different, Princeton University Press, 2009


 

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