Auch der Brexit ist eine Folge unsolidarischer Politik. Banken zu retten, aber Massenarbeitslosigkeit zu tolerieren, zerstört Europa. Der brutale Zynismus, mit dem die europäischen Finanzminister Griechenland gestraft haben, hat den europäischen Grundkonsens erschüttert. Anstatt gemeinsamer Verantwortung und Solidarität war sich jeder selbst der nächste. Kein Wunder, dass auch in der Flüchtlingskrise keine Solidarität gezeigt wurde.
Zum Höhepunkt der Griechenlandkrise habe ich folgende Beiträge geschrieben.
Die Totengräber Europas
Was ist nur in diese Menschen gefahren? Blind vor Eifer und Arroganz wollten die europäischen Finanzminister Griechenland jedes kleinste Detail vorschreiben, wie es sich zu Tode sparen soll. Die griechische Regierung lässt nun ihr Volk nun über Pest und Cholera entscheiden. Nur ein Sondergipfel kann die Situation noch retten.
Nach dem Ende des ersten Weltkriegs war der Franzose Clemenceau für die wesentlichen Bedingungen des Vertrags von Versailles verantwortlich. Keynes war Mitglied der britischen Delegation und hat ihn beschrieben:
Er war der festen Überzeugung, dass … sich Deutschland jeden Vorteil von uns nehmen wird, den es nur bekommen kann …. Daher dürfe man niemals mit einem Deutschen … Kompromisse machen: man könne ihm nur die Bedingungen diktieren. Nur so könne man vermeiden, von Deutschland betrogen zu werden.
Man hat den Eindruck, dass die europäischen Finanzminister bei Clemenceau in die Schule gegangen sind. Nationale Demütigung und ein Heer von verzweifelten Arbeitslosen haben schon einmal eine junge Demokratie in Europa zerstört.
Die griechische Regierung hat in den letzten Monaten viele Fehler gemacht. Sie hat versäumt, glaubhaft ihre Verwaltung zu reformieren und konsequent viele Milliarden ausstehender Steuern einzutreiben. Sie hat zudem ihre Partner regelmäßig brüskiert und vor den Kopf gestoßen. Sie hat ihre Position deutlich überschätzt und ist damit gnadenlos vor die Wand gelaufen. Man kann verstehen, dass die Verhandlungsführer in Europa die Geduld mit den Politikanfängern aus Athen verloren haben.
Bei aller Frustration über unerträgliche Verhandlungspartner, dürfen wir aber nicht vergessen, dass Syriza gewählt wurde, um nach Jahren brutaler Sparpolitik und daraus folgender Massenarbeitslosigkeit eine Politikwende einzuleiten. Anstatt durch einseitige Austerität das Wirtschaftswachstum abzuwürgen, die Arbeitslosigkeit zu verschärfen und so die Staatsverschuldung weiter in die Höhe zu treiben, sollte zunächst wieder investiert werden, die Wirtschaft in Gang kommen, um danach die Schulden zurückzuführen.
Besessen von fast schon religiösen Wahn, Schulden mit Schuld gleichzusetzen, hat die öffentliche Meinung in Deutschland Syriza als linksradikal abgestempelt und sieht nicht, dass die große Mehrheit der internationalen Ökonomen seit Jahren ein Ende der Austerität fordert: Schulden können nur zurückgeführt werden, wenn die Wirtschaft wieder wächst. Dieses Einmaleins vernünftiger Wirtschaftspolitik wollten Tsipras und Varoufakis umsetzen. Nicht mehr und nicht weniger. Deswegen haben sie sich so lange gegen kontraproduktive Sparziele der Troika Institutionen gewehrt.
Als Tsipras eine Minute vor Zwölf erkennen musste, dass die europäischen Regierungen tatsächlich nicht von der gescheiterten Austeritätspolitik abrücken würden, hat die griechische Regierung letzte Woche einen Plan vorgelegt, wie der geforderte Überschuss im griechischen Haushalt erreicht werden kann. Der Vorschlag will die Anpassung vorrangig auf der Einnahmeseite realisieren, durch höhere Mehrwertsteuern, höhere Unternehmenssteuern, einen Anstieg der Beiträge zu den Sozialversicherungen und eine nachgelagerte Besteuerung der Renten. Man muss diesen Vorschlag nicht mögen, beispielsweise weil er den aufgeblähten Staatsapparat weitgehend unangetastet lässt. Aber das Konzept ist durchgerechnet, es hat volkswirtschaftliche Konsistenz – und es wird von der demokratisch legitimierten Regierung des Landes getragen.
Anstatt dies anzuerkennen haben die Troika Institutionen hemmungslos den Rotstift angelegt, und lächerliche oder womöglich ideologisch getriebene alternative Forderungen erhoben. Beispielsweise darf keine einmalige Sondersteuer auf Unternehmensgewinne erhoben werden. Stattdessen soll die griechische Regierung Agrardiesel abschaffen, also die Steuerbefreiung der Landwirtschaft, eine Regelung, die es in Deutschland und fast allen anderen Staaten der EU gibt. Die Begründung ist der Troika ist der Hohn. Angeblich hätten Ausgabenkürzungen eine weniger rezessionsverschärfende Wirkung als Steuererhöhungen. Diese selbstherrliche Form von micro-management wurde von der Troika als Ultimatum vorgelegt. Friss oder stirb, hieß es. Auf Friss und stirb wird es wohl hinauslaufen.
Das griechische Volk hat jetzt die Wahl zwischen Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Wenn die Geschichtsschreibung demnächst ein Datum braucht, wann das Europäische Projekt gescheitert ist, so sind es diese Tage. Tage, an denen Angela Merkel zugelassen hat, dass Finanzminister, blind vor Eifer und Verachtung, Griechenland Bedingungen diktierten, die nicht nur ökonomisch widersinnig sondern auch noch hochgradig demütigend sind, und Politikanfänger in Athen in suizidaler Verzweiflung Europa in den Abgrund trieben.
Die europäischen Regierungschefs dürfen nicht zulassen, dass der Euro scheitert, nur weil entnervte Verhandler ihr Gesicht nicht verlieren wollen. Angela Merkel muss sich in einer Sondersitzung des Bundestages erklären, ob sie wirklich will, dass das große Friedensprojekt der europäischen Einigung jetzt erstmals den Rückwärtsgang einlegt. Und dann muss ein Sondergipfel einberufen werden, um die verfahrene Situation doch noch zu lösen. Soll etwa ein failed state mitten in Europa entstehen? Oder wollen wir Griechenland erst dann unterstützen, nachdem eine Staats- und Bankenpleite das Land ins Chaos versinken lässt?
Staatsstreich eines Starrkopfes?
Was ist nur in diesen Menschen gefahren? Blind vor Eifer und Arroganz will Schäuble die Griechen aus dem Euro drängen. Damit stürzt er nicht die griechische Gesellschaft in den Abgrund und vernichtet Dutzende von Milliarden deutscher Vermögenswert sondern setzt sich auch noch dreist über die deutsche Verfassung hinweg, nach der bei Entscheidungen dieser Größenordnung der Bundestag einzubeziehen ist.
Seit Wochen schon hat man den Eindruck, dass Finanzminister Schäuble zielsicher auf einen Austritt Griechenlands aus der Eurozone hinarbeitet. Kaum gehen die Griechen auf die Forderungen ihrer Gläubiger ein, muss die Troika nachtarocken und die Daumenschrauben noch fester anziehen. Jetzt hat die griechische Regierung trotz negativem Votum der Bevölkerung den letzten Forderungskatalog der Troika vollumfänglich akzeptiert und schon stellt Schäuble neue absurde und hochgradig provozierende Forderungen. Inzwischen gibt er wenigstens zu warum: Griechenland soll „temporär“ aus dem Euro austreten.
Wie stellt er sich diesen „temporären“ Austritt wohl vor? Als ob das verniedlichende Adjektiv die katastrophalen Folgen des Austritts irgendwie abmildern würde. Grexit bleibt jedoch Grexit. Es gibt manche deutsche Ökonomen aus dem Ifo Institut, die behaupten, ein Grexit sei die beste Lösung für das Griechenland. Sie zitieren hierfür ökonometrische Studien über Länder, die zuvor ihren Währungskurs fest an eine starke Währung gebunden hatte und dann aufgrund einer Krise deutlich abwerten mussten. In der Mehrzahl der Fälle fiel das Land zuerst in eine größere Krise, konnte sich aber nach etwa einem Jahr stabilisieren und fing wieder an zu wachsen.
Ein Grexit ist aber keine Währungsabwertung. Eine völlig neue Währung muss eingeführt werden. Banknoten müssen gedruckt und verteilt werden. IT Systeme in den Banken und der Wirtschaft müssen umprogrammiert werden. Bei der Einführung des Euros haben wir uns Jahre für die Umstellung Zeit genommen. Die Einführung der Drachme wird Monate dauern. Die brutale Unsicherheit wird das Land lähmen. In dieser Zeit wird die Wirtschaft Griechenlands vollständig zum Stillstand kommen. Die Kapitalverkehrskontrollen der letzten beiden Wochen sind ein Vorbote des Chaos, das auf Griechenland zu käme, wenn heute der Grexit beschlossen würde.
Wenn dann die Drachme eingeführt ist, wird sie massiv abwerten. Lebensnotwendige Importe können nicht mehr gezahlt werden. Die Menschen stürzen noch mehr in die Armut. Bis die Wirtschaft wieder anspringt müssen Kapazitäten in einer Exportindustrie aufgebaut werden. Die Menschen müssen auf neue Arbeitsplätze umgeschult werden. Die Krise und noch dramatischere Arbeitslosigkeit wird nicht in einem Jahr beendet sein.
Wenn die Drachme um 50% abwertet, und das ist in so einer Krise noch wenig, werden die Schulden im Vergleich zum BIP von derzeit 180% nur aufgrund der Abwertung auf 360% anwachsen. Dazu kommt noch das zu erwartende wirtschaftliche Chaos. Sicher ist, dass wir dann nicht mehr über eine Streckung der Laufzeiten und Senkung der Zinsen sprechen. Selbst unter den günstigsten Annahmen muss Griechenland dann seinen Schuldendienst einstellen. Damit sind die Kredite unwiederbringlich verloren.
Zu der wirtschaftlichen Katastrophe kommt der menschenverachtende Umgang mit den Griechen. Sie wollen im Euro bleiben. Schäuble setzt sie jedoch vor die Tür und stößt sie in den wirtschaftlichen Abgrund. Zeitgleich bietet er „humanitäre“ Hilfe an. Was soll denn dieses Gerede? Wollen wir das Land erst zu Boden schlagen und dann großzügig Suppenküchen finanzieren? Aus dieser Demütigung kann nur noch Hass erwachsen.
Wenn man Schäuble so agieren sieht, wird man an ein Zitat erinnert: „Er war der festen Überzeugung, dass … sich dieses Land jeden Vorteil von uns nehmen wird, den es nur bekommen kann …. Daher dürfe man niemals mit ihm … Kompromisse machen: man könne ihm nur die Bedingungen diktieren. Nur so könne man vermeiden, von ihm betrogen zu werden.“ Man würde glauben, hier spricht Schäuble über Griechenland. In Wirklichkeit wird hier aber die Haltung des französischen Regierungschefs Clemenceau gegenüber Deutschland während der Friedensverhandlung in Versailles geschildert. Leider hat Schäuble vergessen, wohin derartige Arroganz führen kann.
All dies ist schon schlimm genug. Noch unglaublicher aber ist, dass sich Herr Schäuble zusammen mit Kanzlerin Merkel und Herrn Gabriel brutal über die deutsche Verfassung hinwegsetzt. In seinem Urteil vom 19. Juni 2012 hat das Bundesverfassungsgericht in aller Deutlichkeit dargestellt, dass die Bundesregierung bei Entscheidungen dieser Tragweite den Bundestag einbinden muss. Damals ging es nur um Bürgschaften und Kredite, die ohne Zustimmung vergeben wurden. Jetzt werden diese Kredite durch den Grexit mutwillig wertlos gemacht und zugleich riskiert die Bundesregierung das Zerbrechen der Europäischen Union. Sich in Kenntnis dieses Urteils über die deutsche Verfassung zu stellen ist nicht nur dreist und illegal. Hier fügt ein Minister im Amt sehenden Auges dem deutschen Volke Schaden zu. Wir sollten als Grüne Partei Organklage erheben. Das Bundesverfassungsgericht würde uns sicher Recht geben.
Angesichts dieses unglaublichen Vorgangs fordern wir Frau Merkel auf, sich an dem griechischen Regierungschef ein Beispiel zu nehmen. Tauschen Sie Ihren Verhandlungsführer aus. Genug ist Genug hat Herr Renzi in aller Deutlichkeit gesagt. Auch die Freundschaft zu Frankreich ist gefährdet, wenn Starrsinn obsiegen sollte.
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