Die Ökonomen Johannes Becker und Clemens Fuest haben in ihrem Buch Der Odysseus Komplex die deutsche Sichtweise der Eurokrise und eine daraus abgeleitete pragmatische und möglichst leicht umzusetzende Empfehlung zur Reform der Eurozone formuliert.
Während Odysseus sich an einen Mast binden lässt, um nicht dem Gesang der Sirenen zu erliegen, “scheitert die Eurozone an genau diesem Problem der Selbstbindung. Einzelne Mitgliedstaaten erliegen der Versuchung zu hohe Haushaltsdefizite einzugehen, ihre Banken nicht streng genug zu regulieren und Vorkehrungen zur Krisenabwehr in die Zukunft zu verschieben. (…) Diese Unfähigkeit zur Selbstbindung ist die zentrale Schwäche der Eurozone, das genuine Kernproblem der Währungsgemeinschaft.” (S. 14). Das ist die Hauptthese des Buches und daher der Titel Odysseuskomplex.
Becker/Fuest schildern zunächst kurz die Genesis des Euro, um dann auf den Verlauf der Krise einzugehen, die Deutschland zum “Tag der Kapitulation” (S. 60) treibt, dem Tag, an dem “sich Deutschland überrumpeln lässt und in dieser denkwürdigen Nacht des 8. Mai, dem 65. Jahrestag der deutschen Kapitulation, ein zentrales Element des Maastricht-Vertrages aufgibt: das Nichtbeistandsgebot.” (S. 61) Es rächt sich, dass Deutschland völlig planlos und ohne eigene Lösungskonzepte in den Mai-Gipfel gegangen ist. Auch in der Folge unternimmt Deutschland zu wenig, um die Krise einzudämmen, weil die ganze Energie sich darauf richtet, die “auf den Weg gebrachte Neuorientierung der Eurozone in deutschen Interesse zu gestalten und den Ausbau zur Transferunion zu verhindern.” (S.63).
Als die Konjunktur massiv einbricht, sind die Krisenstaaten außerstande gegenzusteuern und die anderen Mitgliedstaaten stecken alle Ressourcen in die Weiterentwicklung der Institutionen der Eurozone. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage wird von zwei Seiten gedrosselt: die Regierungen der Eurozone treten fiskalisch auf die Bremse und die EZB erhöht die Leitzinsen. Das hat Konsequenzen für den Arbeitsmarkt – eine eindrucksvolle und bittere Lektion, dass die politische Reaktion auf die Krise eine Rolle spielt. (S.67/68)
Becker/Fuest verwerfen das sogenannte “Konsensnarrativ” einer großen Gruppe renommierter Ökonomen. Diese erklären die Eurokrise als klassische Zahlungsbilanzkrise: die Krisenländer (je nach Land entweder Staat und/oder Privatsektor) hatten sich im Vorfeld über Gebühr im europäischen Ausland verschuldet. In der Krise kam es dann zu einem sogenannten sudden stop, als eine extreme Kapitalflucht einsetzte und die Wirtschaft in den jeweiligen Ländern dadurch zum Erliegen kam.
Becker/Fuest schreiben: “Wie man aggregierte Variablen, die das Ergebnis von Milliarden von Transaktionen sind, zu den Hauptschuldigen einer Krise erklären kann, ist uns ein Rätsel. (…) Mit gleicher Berechtigung könnt man … die Ursache der Niederlage einer Fußballmannschaft darin vermuten, dass sie zu wenig Tore geschossen hat.” (S. 82)
Auch die Exportüberschüsse des Nordens können gemäß Becker/Fuest die Krise nicht erklären. Zwar gehen mit Exportüberschüssen auch immer gleich hohe Kapitalexporte einher. Insbesondere deutsche und niederländische Sparer haben über ihre Banken die übertriebene Kreditnachfrage und damit die Immobilienblasen in den Krisenländern finanziert. Aber gemäß Becker/Fuest wären die Defizite der Krisenländer von China finanziert worden, wenn es in Deutschland und den Niederlanden keine Überschüsse gegeben hätte. (S. 101) Aus meiner Sicht ist es allerdings erstaunlich, dass die gewaltigen Überschüsse Deutschlands und der Niederlande keine Auswirkung auf die Zinsen in der Eurozone haben sollen und sich die Krisenländer genauso preiswert in China hätten verschulden können.
Becker/Fuest gestehen zu, dass die Austeritätspolitik die Krise eher verschärft hat (S. 107). Sie ist aber nicht eine primäre Ursache der Krise.
Für Becker/Fuest hat die Eurokrise drei fundamentale Ursachen: mangelnde Bankenregulierung, wirkungslose Staatsschuldenregeln und fehlende Rettungsinstitutionen:
“In der Eurozone hat die Regulierung der Banken auf ganzer Linie versagt, nicht nur in den Krisenstaaten. Gerade in Deutschland gibt es Grund, demütig zu sein (…). “Viele Banken sind zu große Risiken eingegangen, sie waren und sind zu groß und komplex und sie haben ein zu enges Verhältnis zu ihren Heimatstaaten.” (S. 86).
Zu hohe Staatsschulden haben negative externe Effekte auf andere Mitgliedstaaten (sie erschweren stabilitätsorientierte Geldpolitik und sorgen im Fall von Staatspleiten zu Turbulenzen auf den internationalen Kapitalmärkten) und sie verhindern in einer Krise eine adäquate staatliche Nachfragestimulierung durch höhere Defizite. (S. 92/93)
Rettungsinstitutionen wie der IWF als sogenannter lender of last resort sind notwendig, weil Staaten auch unverschuldet in eine Liquiditätskrise und einen daraus resultierenden Teufelskreislauf geraten können. (S. 95)
Die beiden Autoren sind sich sicher, dass der Euro nicht wieder abgeschafft wird und dass es keine politische Union gegen wird. Daher suchen sie pragmatische Lösungen, die möglichst leicht umsetzbar sind.
Um die jetzige Krise zu überwinden, sollten marode Banken (Zombiebanken) in Europa abgewickelt werden. Um die Wettbewerbsfähigkeit der Krisenländer wiederherzustellen, schlagen die Autoren eine symmetrische interne Abwertung in den Krisenländern (Lohnkürzungen) und eine interne Aufwertung (Lohnsteigerungen und eine Periode erhöhter Inflation) in den Überschussländern wie Deutschland und den Niederlanden vor. (S. 213/214)
Staatsschulden sollten drastisch reduziert werden (idealerweise auf ein Niveau von etwa 30% des BIP, S. 198). Dazu diskutieren die Autoren verschiedene Optionen, die sie im Grunde alle verwerfen. Am sympathischen scheint ihnen zwar eine einmalige Vermögensabgabe in Höhe von 10% auf alle Vermögen zu sein. (S. 205 ff). Da sie diese aber auch nicht für realistisch halten, schlagen sie eine (Teil-) Vergemeinschaftung der Schulden im Tausch gegen eine institutionelle Reform der Eurozone vor. (S. 224).
Die Vorschläge von Becker/Fuest für eine institutionelle Reform orientieren sich an den von ihnen geschilderten Krisenursachen und dem von ihnen als zentral definierten Odysseuskomplex: der mangelnden Fähigkeit zur Selbstbindung. Entscheidungen sollten so weit wie möglich national getroffen werden, damit diejenigen, die eine schlechte Politik machen, auch für die Folgen ihrer Politik zur Rechenschaft gezogen werden können, und nationale Politiker nicht europäische Institutionen für hausgemachte Probleme verantwortlich machen können. Langanhaltende Arbeitslosigkeit in einem Mitgliedstaat aufgrund von zum Beispiel einer Lohnentwicklung, die den Unternehmen die Wettbewerbsfähigkeit nimmt, ist gemäß Becker/Fuest ein rein nationales Problem.
Banken sollen härter reguliert werden und einerseits deutlich mehr Eigenkapital für ihre Geschäfte einsetzen und andererseits strikte Limits bei der Vergabe von Krediten an die öffentliche Hand befolgen. Da die Mitgliedstaaten Vorgaben für eine maximale Staatsverschuldung sowieso nicht beachten, soll eine Neuverschuldung über 0,5% des BIP (maximale Grenze im europäischen Fiskalpakt) dazu führen, dass eine diese Grenze übersteigende Kreditaufnahme automatisch als nachrangig deklariert würde (accountability bonds). Das heißt, in einer Krise würden diese Anleihen zuerst an Wert verlieren. Bei diesem Vorschlag spielt das Odysseus-Problem keine Rolle, weil die Nachrangigkeit nicht von den einzelnen Mitgliedstaaten vereinbart würde, sondern automatisch erfolgen würde. (S. 158).
Als Rettungsinstitution schlagen Becker/Fuest einen reformierten ESM vor, der über mehr Kapital verfügen soll und in einer Krise weitestgehend unabhängig von der politischen Zustimmung der Mitgliedstaaten agieren soll. Um den zusätzlichen Kapitalbedarf einzuschränken, soll die Laufzeit aller während eines ESM-Programms auslaufenden Kredite automatisch um drei Jahre verlängert werden. Wenn ein Mitgliedstaat nach drei Jahren nicht wieder kapitalmarktfähig ist, soll es einen Schuldenschnitt geben. Die EZB soll hingegen ihr Versprechen zurückziehen, alles zu tun, um den Euro zu retten (das sogenannte OMT-Programm), denn “die EZB hat in der Krise eine Reihe von Aufgaben übernommen, die ihr Mandat überschreiten. Sie betreibt Staatenrettung im Rahmen des OMT-Programms.” (S. 222)
Die Mitgliedstaaten sollen regelmäßig Vorratsbeschlüsse tätigen, um in einer Notsituation automatisch, ohne neuen Parlamentsbeschluss Staatsausgaben zu kürzen oder die Steuern erhöhen zu können.
Angesichts dieser Automatismen kann eine Krise technokratisch bewältigt werden und führt nicht zu politischen Spaltungen. Einen europäischen Finanzminister kann man sich gemäß Becker/Fuest dann auch sparen. Er “wäre zum Scheitern verurteilt und müsste sich schnell auf rein symbolische Aufgaben, Appelle und Mahnungen beschränken.” (S. 141)
Aus meiner Sicht verwerfen Becker/Fuest in ihrem Buch Odysseuskomplex das Konsensnarrativ der zu hohen privaten Verschuldung und dem daraus folgenden sudden stop zu leichtfertig. Die 14-seitige Krisenanalyse der “Konsensautoren” ist sehr lesenswert und erklärt die Krise aus meiner Sicht besser als Becker/Fuest. Auch die Konsensautoren argumentieren, dass die Kapitalströme nur die unmittelbare Ursache der Krise waren und dass es tiefere Ursachen gibt, die dazu geführt haben, dass die Kapitalströme so außer Rand und Band geraten konnten. Sie zeigen, dass die Fokussierung auf Staatsschulden die Krise nicht erklärt: selbst ein gering verschuldeter Staat könnte sich nicht gegen eine panikartige Kapitalflucht wehren. Becker/Fuest hingegen reduzieren die Eurokrise aus meiner Sicht zu sehr auf die Staatsverschuldung und staatliche Insolvenz.
Das Problem des panikartigen Vertrauensverlustes erwähnen die Autoren zwar, aber sie meinen, dass die Märkte normalerweise gut zwischen einem kurzfristigen Liquiditätsproblem und einem tiefergehenden strukturellen Problem unterscheiden können. Daher sehen Becker/Fuest auch kein Problem darin, wenn sich Staaten entschließen den Euro zu verlassen. Zwei Mal im Buch (S. 20 und S. 225) wird dies erwähnt und sogar Griechenland als Kandidat genannt. Dies verkennt das aus meiner Sicht größte Problem der Eurozone: die Reversibilität des Euro. Wenn die Menschen oder die Unternehmen Angst davor haben müssen, dass ihre Ersparnisse oder ihre Investitionen plötzlich durch einen Euroaustritt drastisch an Wert verlieren, werden sie nicht investieren und ihre Ersparnisse in Sicherheit bringen. Der Austritt Griechenlands würde zwangsläufig zu Spekulationen führen, dass auch Spanien, Italien oder andere Länder leicht das Handtuch werfen könnten. Becker/Fuest reihen sich hier in eine unrühmliche Gemeinschaft von Menschen, die mit ihrem Gerede über einen Austritt Griechenlands die Krise befeuert haben.
Damit wird auch verständlich, warum die Autoren makroökonomische Ungleichgewichte resultierend aus ungleicher Lohnentwicklung für nicht so wichtig halten. Wenn Unternehmen in einem Land die Wettbewerbsfähigkeit verlieren, braucht das die Eurozone nicht zu kümmern. Wenn aufgrund langanhaltender Arbeitslosigkeit dann Populisten an die Macht kommen und Europa verlassen, sei’s drum, ein nationales Problem. Becker/Fuest argumentieren zwar oft mit externen Effekten, insbesondere bei zu hoher Staatsverschuldung. Bei den Ungleichgewichten sehen sie diese seltsamerweise nicht. Wenn in Deutschland über viele Jahre die Löhne langsamer steigen als die Produktivität und die Inflation, kann man das vornehm als Lohnzurückhaltung bezeichnen. In Wirklichkeit ist es aber eine Form von Dumping, die alle anderen Länder dazu zwingt, ebenfalls die Reallöhne abzusenken. Ohne Währungsgemeinschaft hätte die Deutsche Mark längst deutlich aufgewertet und die Lohnzurückhaltung zu Nichte gemacht. Mit Währungsunion kann sich sich Deutschland auf Kosten seiner Nachbarn sanieren. Diese Form des beggar thy neighbour hat in einer Währungsunion nichts zu suchen und rechtfertigt eine zentrale Koordination.
Die vorgeschlagenen Maßnahmen springen aus meiner Sicht zu kurz. Banken härter zu regulieren ist natürlich wichtig. Aber zu hoffen, dass mit besser regulierten Banken eine Eurokrise unmöglich gewesen wäre, scheint mir verfehlt. Auch die accountability bonds werden aus meiner Sicht nicht dazu führen, dass die Staaten weniger Schulden machen. Die Finanzmärkte werden in guten Zeiten in ihrem Überschwang nicht damit rechnen, dass diese Anleihen ausfallgefährdet sind. Wenn man sich die lächerlich niedrige Verzinsung von nachrangigen Bankanleihen ansieht, werden nachrangige Staatsanleihen noch niedriger verzinst sein und daher die Staaten nicht abschrecken. Wenn es aber zu einer erneuten Krise kommt, dürfte die Stimmung wieder panikartig umschlagen und der Markt für diese Anleihen dann austrocknen. Wenn dann das erste Land einen Schuldenschnitt bei diesen Anleihen durchführt, wird es zu einer Ausbreitung der Panik in vielen anderen Ländern kommen und schon sind wir wieder in einer neuen Staatsschuldenkrise. Hier habe ich ausführlicher begründet, warum meiner Meinung nach Marktdisziplin für Staatsanleihen nicht gut funktioniert.
Trotz dieser Kritik ist das Buch lesenswert. Es ist gut und verständlich geschrieben und ist ein gelungenes Beispiel für das deutsche Narrativ der Krise.
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