Können Versicherer gefährlich sein?

Gemäß BaFin Präsident Felix Hufeld gehen auch von kleinen Versicherern systemische Risiken für das Finanzsystem und die Realwirtschaft aus. Lebensversicherer mit Garantieverzinsung und ohne relevante Stornokosten sind gemäß seinen Co-Autoren besonders gefährlich.

Hufeld hat zusammen mit Professor Ralph Koijen von der Stern School of Business in New York sowie Christian Thiman, Strategiechef des französischen Versicherungskonzerns Axa ein Buch mit dem Titel The Economics, Regulation, and Systemic Risk of Insurance Markets herausgegeben. Das Buch ist Resultat eines intensiven Dialogs zwischen Versicherungs­industrie, Wissenschaft und Regulierungsbehörden und diskutiert in zehn Kapiteln mit insgesamt 20 Autoren die Frage, ob von Versicherungen systemische Risiken für die Finanzbranche und die Realwirtschaft ausgehen und wenn ja, wie man diese regulieren sollte, damit die Versicherungsbranche nicht die nächste große Finanzkrise und milliardenschwere staatliche Rettungsaktion verursacht.

Unter den Autoren herrscht Konsens, dass von Versicherern systemische Risiken ausgehen können, wenn diese sogenannte non-traditional oder non-insurance (NTNI) Aktivitäten betreiben. Weniger klar ist die Frage, was genau NTNI Aktivitäten sind und ob diese weit verbreitet sind. Hoher Diskussionsbedarf besteht bei der Frage, wie man mit systemischen Risiken umgehen sollte.

Klassische Versicherungsaktivitäten ohne systemisches Risiko sind reine Risiko­versiche­rungen. Versicherungs­nehmer versichern sich hier gegen einen individuellen Schaden (Feuer, Unfall, Krankheit). Diese Schäden treten selten auf und sind in einer großen Versichertenge­meinschaft aufgrund der Statistik großer Zahlen relativ sicher prognostizierbar. Sie sind nicht systematisch miteinander korreliert, insbesondere hängen sie nicht am konjunkturellen Zyklus der restlichen Volkswirtschaft. Bei diesen Versicherungen kann es zudem keinen sogenannten Run geben, also keine Panik der Kunden, die alle plötzlich ihr Geld abziehen wollen und damit die Versicherung aufgrund von Liquiditätsnot in den Ruin treiben. Wenn Kunden kündigen, verlieren sie ihren Versicherungsschutz und haben umsonst einbezahlt. Sie besitzen kein Guthaben, das sie bei einer Kündigung ausbezahlt bekommen.

Auch klassische Versicherungsgesellschaften können Nicht-Versicherungsgeschäfte betreiben, indem sie zum Beispiel die Wertpapiere ihres Anlagevermögens verleihen, Derivatgeschäft betreiben oder Risiken in Zweckgesellschaften (Schattenversicherungen) auslagern. Die Autoren zeigen auf, dass dies in den USA inzwischen weit verbreitet ist. Leider gibt es hierzu keine Daten aus Deutschland.

Wichtig zum Verständnis der systemischen Risiken von Versicherungsgesell­schaften ist aber, dass viele Versicherer und insbesondere die typischen deutschen Lebensversicherer nach dieser Definition kein klassisches Versicherungs­geschäft betreiben. Dies liegt daran, dass ihre Kunden weniger ein individuelles Risiko (Todesfall, Langlebigkeit) absichern, sondern vielmehr private Vermögens­bildung betreiben. Die Kunden sparen ein Guthaben an, das sie sich jederzeit ausbezahlen lassen können. Besonders problematisch ist dies, weil die Versi­cherer ihren Kunden eine Garantieverzinsung versprechen und keine hohen Storno­gebühren für die Kündigung berechnen. Acharya, Philippon und Richardson zeigen dies sehr deutlich in ihrem Kapitel Measuring Systemic Risk for Insurance Companies. 

Aus diesem Grund betreiben die meisten deutschen Lebens­versicherer bankähnliches Geschäft mit allen systemischen Risiken und typischen Ansteckungsgefahren.[1]

Wenn ein Lebensversicherer in Schwierigkeiten kommt, macht es für die Kunden Sinn, sehr schnell zu kündigen, um sich das persönliche Versicherungsguthaben inklusive Garantiever­zinsung ausbezahlen zu lassen, solange das Unternehmen noch ausreichend Geld hat. Wer zu spät kündigt, bekommt eventuell nur einen Bruchteil dessen, was sie/er bei rechtzeitiger Kündigung erhalten hätte. Dies ist ein klassischer Run und treibt das Unternehmen mit einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung in den Ruin. Schlimmer noch: wenn ein Lebensver­sicherer in Schwierigkeiten kommt, kann dies an allgemeinen volkswirtschaftlichen Problemen liegen, zum Beispiel einer Niedrigzinsphase. Viele Kunden sind dann besorgt, dass es auch anderen Versicherern schlecht gehen könnte. Der Run auf ein Unternehmen ist also ansteckend und kann leicht eine allgemeine Panik auslösen und die ganze Lebensversicherungsindustrie in Ruin treiben.[2]

Keine Bundesregierung würde das zulassen, insbesondere, weil damit die private Alters­vor­sorge von weiten Teilen der Bevölkerung gefährdet wäre. Das ist der Grund, weshalb von typischen deutschen Lebensversicherern – und zwar auch von den kleinen Versicherern ­–  ein systemisches Risiko ausgeht.

Felix Hufeld setzt sich in seinem Beitrag A Regulatory Framework for Systemic Risk in the Insurance Industry mit den aufsichtsrechtlichen Konsequenzen auseinander. Er unterscheidet direktes und indirektes systemisches Risiko. Manche Versicherungsunternehmen können so groß und so vernetzt sein, dass ihr Scheitern unmittelbar das gesamte Finanzsystem bedrohen würde. Indirektes systemisches Risiko entsteht, wenn viele kleine Versicherer gemeinsam auf gleiche Weise auf einen Schock reagieren und so gemeinsam too big to fail werden, so dass der Staat mit einem bail out reagieren würde.

Direktes systemisches Risiko wird derzeit hauptsächlich über höhere Eigenkapitalan­forde­rungen reguliert. Hufeld sieht dies kritisch. Er ist skeptisch, ob von Versicherern überhaupt direktes systemisches Risiko ausgeht. Er gibt zwar zu, dass man nach der AIG Erfahrung nicht kategorisch ausschließen könne, dass große internationale Versicherer auch NTNI Aktivitäten betrieben. Aber er scheint nicht wirklich überzeugt[3] und geht leider nicht auf die Beiträge von Koijen und insbesondere Acharya ein, aus denen hervorgeht, dass dies inzwischen eher die Regel als die Ausnahme ist.

Außerdem zweifelt er an der Nützlichkeit von höheren Eigenkapitalan­forde­rungen. Es gebe im Gegensatz zur Bankenwelt keine international einheitlichen Kapitalanforderungen in der Versicherungsbranche und solange[4] diese nicht eingeführt seien, werde es definitiv keine Eigenka­pitalzuschläge für systemische Versicherer geben.[5]

Das Argument ist nicht sehr überzeugend. Demnach müsste man auf jegliche Eigenkapital­regel verzichten. Die Ungleichbehandlung erfolgt ja nicht aus dem Zuschlag für systemisches Risiko, sondern aus den unterschiedlichen Kapitalanforderungen. Der Zuschlag würde die Ungleichbehandlung nicht verschärfen.

Noch interessanter ist Hufelds zweites Argument: Die Eigenkapitalanforderungen in der Versicherungsbranche seien derzeit so niedrig, dass sie sowieso nicht bindend seien.[6] Wenn ein Unternehmen nicht mindestens 150% der gesetzlichen Kapitalanforderung erfülle, würde dies bereits Fragen aufwerfen. Da die Unternehmen die jetzigen Anforderungen so massiv übererfüllten, würden höhere gesetzliche Eigenkapitalanforderungen komplett ins Leere laufen.

Auch daraus könnte man einen ganz anderen Schluss ziehen: die BaFin könnte sich dafür stark machen, dass analog zu den Banken auch in der Versicherungsbranche harte und bindende Eigenkapitalregeln eingeführt werden. Und selbst wenn dies nicht gelingt, und man als gute Aufsichtsbehörde schon bei 150% Erfüllung der Quote einschreiten muss, macht ein Zuschlag für systemische Risiken immer noch Sinn. Man müsste diesen Zuschlag als Aufsichtsbehörde nur auf die 150% Erfüllungsquote der normalen Kapitalanforderung hinzurechnen.

Für Hufeld ist das indirekte systemische Risiko noch wichtiger als das direkte: Man wisse nicht, was die nächste Finanzkrise auslösen würde. Aber im Versicherungsbereich sei es mindestens so wahrscheinlich, dass das kollektive Verhalten vieler kleiner Versicherer eine Krise auslösen würde wie das Scheitern eines großen.[7] Hufeld nimmt leider keinen Bezug auf die vorhergehenden Kapitel. Aber aus dem Zusammenhang muss man schließen, dass Hufeld die Vielzahl der deutschen Lebensversicherer meint.

Gemäß Hufeld muss noch ein konsistenter aufsichtsrechtlicher Rahmen für indirektes Systemrisiko erarbeitet werden. Er denkt an aufsichtsrechtliche Maßnahmen wie Diversifikation der Anlagen, Risikozuschlag für Staatsanleihen, Stornobeschränkungen und weniger Freiheit für die Risikoberechnung mit internen Modellen.[8] Von Eigenkapitalzuschlägen ist er nicht überzeugt. Leider begründet er nicht, warum zusätzliches Eigenkapital nicht hilfreich wäre. Eigenkapital ist schließlich der beste Schutz vor Insolvenz und das echte Eigenkapital ist in der Lebens­versicherungsbranche mit etwa 1,5% der Bilanzsumme extrem niedrig.[9]

Es ist sehr bedauerlich, dass Herr Hufeld die Vorzüge von einer guten Eigenkapital­aus­stat­tung nicht anerkennt. In der derzeitigen kritischen Niedrigzinsphase wäre es sehr wichtig, wenn die BaFin die Lebensversicherer zwingen würde, keine Dividenden auszuschütten und alle anderen möglichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Verluste aus einer anhaltenden Niedrigzinsphase gut abpuffern zu können. Immerhin ist es erfreulich, dass Herr Hufeld das systemische Risiko der vielen kleinen Lebensversicherer in Deutschland anerkennt. Es bleibt zu hoffen, dass die BaFin daraus die notwendigen Maßnahmen ergreift, um eine Krise zu verhindern und sich nicht darauf verlässt, dass sie im Krisenfall die Ansprüche der Kunden beschränkt. Dazu ist sie zwar gesetzlich ermächtigt. Der politische Sturm, der von einem großflächigen bail-in der Kundenguthaben ausgehen würde, wäre aber so gewaltig, dass kein Finanzminister dem Stand halten würde.


[1] In den USA heißt diese Art der Lebensversicherung variable annuity. Der Name ist irreführend. Die Kunden bekommen je nach Anlageerfolg ihres Versicherers mehr oder weniger ausbezahlt (das entspricht der Überschussbeteiligung in Deutschland). Der Versicherer garantiert aber genauso wie in Deutschland eine Mindestverzinsung des Guthabens und genauso wie bei uns gibt es keine relevanten Stornokosten. In den Beiträgen von Thimann, von Koijen et al. und von Acharya et al. wird systemisches Risiko analysiert. Alle drei Beiträge nennen diese Art der Verträge als Hauptquelle systemischen Risikos.

[2] Acharya et al diskutieren besonders intensiv das Problem der Kündbarkeit und eines möglichen Runs. Sie bestätigen die These der Bundesbankautoren Mark Feodoria und Till Förstemann (lethal lapses ­– how a positive interest rate shock might stress German life insurers), dass es zu einer Panik auf dem Lebensversicherungsmarkt kommen kann

[3] S. 197f

[4] die internationalen Versicherungsaufsichtsbehörden haben sich vorgenommen bis Ende 2019 für einheitliche Standards zu sorgen

[5] S. 201

[6] S. 201

[7] S. 206

[8] S. 204f

[9] vgl Statistik der BaFin für Erstversicherungsunternehmen und Pensionsfonds

 

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